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Archiv-Artikel

Retro-Avantgarde

Lenny Kravitz ist der Pate einer sehr inspirierenden Freundschaft, die ich seit über 10 Jahren mit einem Journalisten (nennen wir ihn R.) pflege. Und das kam so: Auf einer internationalen Konferenz wurde uns (R. und mir, nicht Kravitz) ein gemeinsames Zimmer zugewiesen, was nicht ganz unproblematisch war. Ich war ein Störfaktor erster Güte, ein schlafloser Krawallbruder und erratischer Psychopath, wie man ihn noch dem ärgsten Feind nicht als Bettnachbarn wünschen mag. So ähnlich jedenfalls formulierte es R. bei seiner Beschwerde an die Konferenzleitung, die mich daraufhin ins Gebet nahm und übrigens nie wieder zu einer ihrer Veranstaltungen einlud. Was einerseits nicht so tragisch ist, waren die doch zumeist zum Einschlafen langweilig, wurden aber andererseits wiederholt von finanzstarken Förderinstitutionen an lohnenden Urlaubszielen ausgerichtet.

Ich muss nun sagen, dass R.‘s Beschwerden nüchtern betrachtet, wenn auch maßlos übertrieben, doch ihre Berechtigung hatten, es störte mich nur, dass er sie nicht mir gegenüber geäußert hatte. Ich stellte ihn zur Rede. Aus bis heute im Nebel des Vergessens verschwundenen Gründen, endete diese Aussprache in einem endlos langen Spaziergang, auf dem wir Lenny-Kravitz-Platten (bis dahin immerhin fünf) analysierten. Tatsächlich ist es ein bißchen rätselhaft, wo wir in der Musik des begabten Multiinstrumentalisten, Sängers und Produzenten eigentlich so viel bedeutungstiefen Interpretationsraum fanden. Vielleicht waren wir einfach nur froh über ein gemeinsames Gesprächsthema.

Als Lieblingsalbum bot sich natürlich „Mama Said“ an, das zweite Werk Kravitz‘, das ähnlich wie das Debüt „Let Love Rule“ dahingehend kritisiert wurde, dass es zu sehr in seinen musikalischen Vorbildern aufgangen sei und zu wenig eigene Akzente gesetzt habe. Das ist natürlich Quatsch. Wenn jemand in der Lage ist, so perfekt aus Blues, Soul, Folk, Reggae, Funk, R&B und psychedelischem Rock zu schöpfen, ist das schon sehr eigen. Oder etwa nicht? Dazu kommt das herzergreifende Thema, der ganzen Platte: Schmerz und Verlust, die für Kravitz vor der Produktion von „Mama Said“ durch die Trennung von der Schauspielerin Lisa Bonet, mit der er auch ein gemeinsames Kind hat, hörbar präsent waren. Seine späteren Erfolge als Musiker, aber auch als Produzent und Komponist unter anderem für Madonna und Vanessa Paradis und die großen Retrowellen, nicht zuletzt das aktuelle Soul-Revival, sollten ihm recht geben und seinen Status als visionären Giganten der populären Rockmusik festigen. Der friedensstiftende Charakter seines Oeuvres ist dabei eine zwar anekdotenhafte, aber angemessene Ergänzung. DANIÉL KRETSCHMAR