24 stunden spreebogen, folge 23
: Von 22 bis 23 Uhr

Wie weit weg von allem man hier sein kann! Wie allein mit sich! Wie sehr aus der Welt gefallen!

Nachts bei Kragenhochstellwetter am Spreebogen fühlt man sich wie in einer leeren Mitte. Wenn Stunden reden könnten, würde diese sagen: Mitten im Zentrum bist du von Einsamkeit umgeben! Und es gibt zwei einleuchtende Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen. Entweder man nutzt das Gelände als Naherholungsgebiet, geht an der Spree entlang, lässt sich vom Rauschen der Bäume beeindrucken, von den Lichtreflexen auf dem Wasser betören und hängt seinen Gedanken nach (als einsamer Mann nachts am Wasser, während ein kalter Wind weht: großartig heroisch!). Oder man stellt sich an diesen erhöhten Platz an der Betonmauer, die man erreicht, wenn man vom Kanzleramt Richtung Spree über die Wiese und an dem minimalistischen Pavillon vorbeigeht, und sieht sich von dort aus die ganze Berliner Republik mit dem Blick eines Ausgewanderten an.

Der Rundblick von diesem Platz aus ist toll bei Nacht. Hauptbahnhof. Hamburger Bahnhof. Charité. Bundespresseamt. Die Abgeordnetenbüros. Reichstag. Potsdamer Platz. Kanzleramt. Siegessäule. Man kann sich einmal um sich selbst drehen, sieht dabei die wichtigsten Gebäude dessen, was nun also die Berliner Republik geworden ist, und wird um diese Zeit doch im Umkreis von 400 Metern der einzige Mensch sein. Wie ausgewandert fühlt man sich deshalb, weil man ja weiß, dass überall die Diskurse toben, Pläne geschmiedet werden, Bündnisse geknüpft, Karrieren begründet – aber genau hier, mittendrin und sogar in Sichtweite, schrumpft das alles zu etwas zusammen, was man einfach hinter sich zurücklassen könnte. Natürlich, in welche Richtung man von hier aus auch gehen wird, sogleich wird einen das Treiben der Gesellschaft wieder umfangen – und das ist auch gut so, weil man länger als für so eine nächtliche Stunde nun doch keine einsame Insel sein will. Noch während man sich von der Betonmauer abstößt, freut man sich schon auf die glückliche Rückkehr in die Welt der Menschen. Zumal bei diesem Wetter.

Nachzutragen ist noch: Auch zur „Tagesthemen“-Zeit keine Weltwichtigkeitsreporter mit Mikro in der Hand gesehen. Eigentlich sowieso niemanden gesehen. DIRK KNIPPHALS

Wöchentlich geht der Autor eine Stunde lang durch das Regierungsviertel der deutschen Hauptstadt – jede Woche eine Stunde später als in der Woche davor. – Von 23 bis 24 Uhr und damit der letzte Teil der Reihe: am 1. 12.