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Archiv-Artikel

Der Kranke wider Willen, die überforderte Psychologie

GUTACHTEN Zwei Psychiater bescheinigen dem Attentäter Anders Breivik eine paranoide Schizophrenie – und Norwegen debattiert

Breivik darf Zeitungen lesen und bekommt offenbar bündelweise Verehrerinnenpost und Heiratsanträge

„So hat man es früher in der Sowjetunion gemacht“, sagt Daniel Poohl: „Menschen mit abweichenden politischen Ansichten einfach als geisteskrank abzutun.“ Poohl ist Chefredakteur der schwedischen antirassistischen Publikation „Expo“ und hält es für zutiefst problematisch, den Massenmörder Anders Breivik aufgrund seines Weltbilds für unzurechnungsfähig zu erklären.

Das taten die Psychiater Torgeir Husby und Synne Sørheim, die ihm in ihrem Gerichtsgutachten wegen seiner „Wahnvorstellungen“ paranoide Schizophrenie bescheinigten. Poohl: „Damit tut man weitverbreitetes rechtsextremistisches Gedankengut als krank ab. Breivik mag einsam in seinem Handeln sein, mit seinen Ideen ist er es nicht.“ Poohl steht nicht allein mit seiner Kritik. Den Gutachtern habe ganz offensichtlich die notwendige Kenntnis des Milieus gefehlt, in dem Breivik sich bewegte, sagt Tore Bjørgo, Rechtsextremismusexperte bei der norwegischen Polizeihochschule: „Ohne ein fundiertes Wissen über die kollektiven Vorstellungen zu haben, die in rechtsextremen Umfeld üblich sind“, könne man Breiviks „bizarre und konspiratorische Vorstellungswelt überhaupt nicht richtig einordnen“.

Tatsächlich meinten Husby und Sørheim das Individuum Breivik von seinem ideologischen Hintergrund trennen zu können: Die „politische Botschaft“, die Breivik etwa in seinem 1.516-seitigen „Manifest“ niedergelegt hatte, berücksichtigten sie nicht, da dies „außerhalb des Mandats der Sachverständigen liegt“.

Aber gerade dieses Manifest sei der Schlüssel, wolle man Breiviks Vorstellungswelt verstehen, kritisiert Bjørgo. Wenn Breivik Norwegen in einem „Kulturkrieg“ sieht und seine Aufgabe darin, die „Verräter“ auszuschalten, dann stehe er „damit alles andere als allein“, meint Bjørgo: „Tausende teilen solche Auffassungen.“

„Wir wissen, dass Breivik viele Gesinnungsgenossen hat und seine Anschauungen durchaus verbreitet sind – und damit haben wir ein gesellschaftliches Problem“, gibt auch der Staatswissenschaftler Steingrímur Njálsson zu bedenken. Er befürchtet negative Konsequenzen, wenn man ihn einfach als „verrückt“ abqualifiziere und „das dann mit anderen Leuten mit ähnlichen Vorstellungen auch macht“. Bjørgo stimmt zu: „Wir brauchen eine Debatte über Rechtsextremismus, nicht über Breiviks Gehirn. Sonst versäumen wir, seine Ideen zu bekämpfen. Und nicht bei allen, die ähnliche Vorstellungen haben, reicht eine psychologische Erklärung.“

Die Psychologie sei deutlich überfordert und hat „bei solchen Schuldunfähigkeitsgutachten ein unverdientes Monopol“, meint Bjørgo: „Besser wäre eine multidisziplinäre Begutachtung, damit es verschiedene Einfallswinkel gibt.“ Arne Thorvik, Gefängnisarzt in Oslo und selbst seit 20 Jahren Gerichtssachverständiger, sieht das so ähnlich und plädiert dafür, dass das Gericht neue Gutachter aus unterschiedlichen Disziplinen benennt: „Falls nicht, wird es ewig Zweifel geben.“

Noch vor Weihnachten soll – wie nach norwegischem Strafprozessrecht üblich – eine neunköpfige rechtsmedizinische Kommission entscheiden, ob das Husby-Sørheim-Gutachten dem Prozess zugrunde gelegt werden kann. Und Breivik selbst? Der genießt mittlerweile Hafterleichterungen, darf Zeitungen lesen, bekommt offenbar bündelweise Verehrerinnenpost und Heiratsanträge und ist sich mit den Kritikern des Gutachtens weitgehend einig: Seinem Anwalt erklärte er, er halte die Gutachter für inkompetent, da sie keine Ahnung von „ideologischen Terroristen“ hätten. REINHARD WOLFF