: „Lass uns den verfolgen!“
Ein Grieche und ein Türke haben in München einen deutschen Rentner verprügelt – und lösten damit eine Debatte über schärfere Strafen aus. In der Türkei wird der Fall ein wenig differenzierter beurteilt
AUS ISTANBUL DILEK ZAPTCIOGLU
Die Nachricht von dem türkisch-griechischen Überfall auf einen Deutschen in München kommt auch in der Türkei an – allerdings scheint in der Euro-Zone die deutsche Empörung verloren gegangen und durch eine türkische ersetzt worden zu sein: „Es ist ja mal wieder bezeichnend“, sagt die Mutter einer Istanbuler Freundin, die es aus dem Fernsehen erfuhr, „dass sie den Griechen nicht ausweisen, aber den Türken.“ Ich antworte etwas nüchtern: „Wenn sie könnten, würden sie auch den Griechen ausweisen, können sie aber nicht, der ist EU-Bürger.“ Ihr Vater pflichtet mir bei: „Ja, es ist nicht deshalb, dass die Deutschen etwa den Griechen lieber mögen als den Türken.“
Der griechische Täter Spiridon ist genauso alt wie Marco – „unser“ 17-jähriger „Schüler“, der „ganz normale deutsche Junge“, der, so die deutsche Volksmeinung, zu Unrecht der sexuellen Belästigung beschuldigt wird, das „halbe Kind“, das im türkischen Kerker saß und nach Hause zurückkehren durfte. Aber ob Marco, Spiridon oder Serkan, der in Deutschland geborene „türkische“ Täter – während die türkischen Jets jede Nacht nordirakisches Gebiet bombardieren und die Istanbuler Stadtverwaltung die Silvesterfeiern auf den zentralen Plätzen „wegen Terrorgefahr“ absagt, gehen Geschichten von prügelnden Deutschen, Türken oder Griechen eher unter. Man hat andere Sorgen.
Die Deutschland-Ausgabe der Hürriyet besucht die Familie des 20-jährigen Serkan, der zur Strafe sofort ausgewiesen werden soll, damit er nie wieder auf deutschem Boden einen Deutschen anzugreifen wagt. Plötzlich wird für den türkischen Leser der Gewalttäter zu einem Menschen. Einem Menschen, für den sich die türkische Gesellschaft in der Heimat nie interessiert hat und der im Falle einer Ausweisung mit Sicherheit hier nach seinem nächsten Delikt im Gefängnis landen wird. Ein türkisches, „verlorenes Gastarbeiterkind“, in den Augen der Daheimgebliebenen so unerwünscht wie in den Augen seiner deutschen „Gastgeber“. Allenfalls einer, der das türkische Image in Europa mies macht. „Ohne die Klassenfrage“, sagt ein Freund, „bleibt nur nationalistisches Gequatsche übrig.“
Die Familie kommt aus dem mittelanatolischen Kayseri, inzwischen eine Boomtown unter den gemäßigten Islamisten. Vor zwölf Jahren ließ sich Serkans Vater von der Mutter scheiden und blickte wohl nicht mehr zurück auf die drei Kinder, die er gezeugt hatte. Er war selbst alkoholabhängig und saß drei Jahre im Gefängnis. Seine Kinder, vor allem die beiden Jungen, hat er angeblich ständig geschlagen. Die Mutter musste nach Jahren harter Arbeit in Frührente gehen und verkauft heute auf U-Bahnhöfen die Abendzeitung, um zu überleben.
Die Schwester Serkans erzählt der Hürriyet: „Ich und Serkan sind hier geboren und aufgewachsen. Ich habe nach der Realschule Anwaltsgehilfin gelernt.“ Wie so oft sind es die Jungen, die es nicht schaffen. Ihr älterer Bruder wurde bereits 1999 wegen Kriminalität aus Deutschland ausgewiesen. „Auch Serkan begann, durch falsche Freunde sehr früh kriminell zu werden“, sagt sie, „viele Male war er im Gefängnis, wurde nach mehreren Wochen entlassen. Zuletzt saß er acht Monate. Seine Reststrafe wurde auf Bewährung ausgesetzt.“ Er hat eine deutsche Freundin, mit der er erst vor zwei Monaten ein Baby bekam: „Aber das Jugendamt entzog ihnen das Sorgerecht. Seit zwei Wochen kann er seinen Sohn nicht mehr sehen, das machte ihn fertig.“
Serkan ging nach der Attacke in der U-Bahn-Station nach Hause. Die Schwester erkannte ihn im Videofilm anhand seiner Schuhe: „Ich hatte sie ihm geschenkt. Ich sagte ihm: Du musst dich sofort der Polizei stellen!“ Serkan antwortete seiner Schwester: „Der Mann sagte uns, wir sollen in der U-Bahn nicht rauchen, und knallte dann jedem von uns eine Ohrfeige.“ Spiridon sei daraufhin auf den Deutschen losgegangen, hätte ihn angespuckt. Serkan hätte seinen Freund zurückgehalten und auf einen anderen Platz im Wagen gesetzt. Aber Spiridon hätte gesagt: „Lass uns den verfolgen!“
Die Hürriyet zitiert die Schwester weiter mit den Worten: „Aber es ist Serkan, der dem Mann von hinten den ersten Faustschlag erteilt. Auch den ersten Fußtritt gibt er. Dann beginnt Spiridon, den alten Mann bis zur Bewusstlosigkeit zu treten.“
Das einzige Mädchen der Familie, die keine mehr ist, hat sie geschafft, die viel gerühmte „Integration“, aber sie bekommt auch immer nur eine einjährige Aufenthaltserlaubnis. Serkan ist ohnehin nur mit dreimonatigen Duldungen im Land, erzählt sie. Der größte Unterschied zwischen Marco und Serkan ist, dass der Erste ein Zuhause hat.