Raufhandel im Binnenmarkt

■ Hochkonzentriertes „Schießen auf bewegliche Ziele“: Mit Warenhäusern und Filialketten auf der Jagd nach den Verbrauchern der Zukunft

Teil 32: Dietmar Bartz

Für Erwin Conradi, als Chef der Metro International einer der ganz Großen im europäischen Handelsgeschäft, werden sich die Grenzüberschreitungen seiner Branche auch im Binnenmarkt in Grenzen halten: „Es gibt keinen Zwang zur Internationalisierung.“ Doch Conradi hat gut lachen: Der Metro-Konzern ist bereits in 14 Ländern aktiv und gehört damit zu den wenigen wirklich internationalen Handelsunternehmen im EG-Bereich.

Mit den gleichwohl bestehenden weiteren Expansionsgelüsten steht Metro nicht allein da. „Der Otto- Versand vergrößert seinen Einfluß im internationalen Versandhandel“, diagnostiziert das Fachblatt 'Der Einzelhandelsberater‘ kühl. Otto kaufte über seine französische Tochter Trois Suisses die spanische Versandhandelsfirma Venta Cataloga, den größten Versender auf dem noch wenig entwickelten iberischen Markt. Zugleich legte sich Trois Suisses den italienischen Kleinversender CID zu, während Otto selbst am drittgrößten italienischen Versandhändler Euronova Helvetia einen 75 Prozent erwarb.

Andre, ein auch in der BRD aktiver Schuhhersteller und -filialist, will mit einer neuen Discount-Schiene hier, in Belgien, Spanien und der Schweiz expandieren. Durch Übernahmen ist Andre auch in das Geschäft mit Berufs- und Damenbekleidung eingestiegen. So betreibt die neu erworbene Caroll-Gruppe 188 Läden für Damenbekleidung in Frankreich und beliefert nach dem „Franchise-System“ weitere 90 ausländische Läden mit Namen, Produkten und Know-how.

Und während der englische Einzelhandelskonzern Storehouse seine bundesdeutschen „Mothercare„-Filialen schließt, hat seine Kleinpreistochter BhS in Brüssel einen 1.000 Quadratmeter großen Supermarkt eröffnet, der ausschließlich BhS-Ware verkauft. Derweil sind die Storehouse-Habitat -Häuser in Belgien und den Niederlanden an Franchise-Nehmer verkauft worden; der Name und das Angebot bleiben also erhalten.

Konzentrationsschub

Nun sind Konzentrationen im Handel an sich nichts Neues. In kaum einer Branche ist in den letzten zwanzig Jahren so viel ge- und verkauft, fusioniert und kooperiert worden. Aber die Aussicht auf den grenzüberschreitenden Binnenmarkt hat nun die Hersteller in die Startlöcher getrieben, egal ob sie Lebensmittel, Schuhe, Textilien, Möbel, Radios, Tapeten oder Sportartikel produzieren. Sie fusionieren oder kaufen die schwächeren Konkurrenten auf und gewinnen dadurch an Macht gegenüber ihren Kunden, den Warenhäusern, Filialketten, dem Großhandel und den Einkaufsverbünden der Fachgeschäfte wenn sie sich, wie im Autoersatzteil- oder Reifenhandel, nicht sogar selbst an kleineren Firmen beteiligen.

Die Abnehmer wiederum, die selbst international operieren und kleineren Herstellern durchaus die Preise diktieren können, kooperieren noch stärker oder fusionieren selbst, um der gesteigerten Marktmacht auf der Anbieterseite und der Konkurrenz innerhalb des eigenen Wirtschaftszweiges entgegentreten zu können. Befördert wird dies durch eine Reihe von Binnenmarkt-Vorteilen, die denjenigen den meisten Vorsprung geben werden, die am ehesten den Abbau von Grenzkontrollen oder die Standardisierung von Lebensmitteln und technischen Gerätschaften zu nutzen wissen. Dabei ist der Auslöser für Fusionen nicht nur die Jagd nach den 320 Millionen Portemonnaies der Binnenmarkt-Europäer. Zuweilen kommen Anstöße auch von außerhalb der Branche, hängen eher indirekt mit dem Binnenmarkt zusammen, können aber trotzdem auch unter diesem Gesichtspunkt genutzt werden. Gerade stehen aus ganz unterschiedlichen Gründen mehrere Große zum Verkauf: Coop ist wegen Mißmanagements unter dem Hammer, der Konzern British American Tobacco (BAT) wird sich von seiner 51prozentigen Beteiligung an Horten trennen, weil er sich aufs qualmende Kerngeschäft (in der BRD etwa mit „HB“) konzentriert, um einen feindlichen Übernahmeversuch im heimischen London abzuwenden, und die Tengelmannsche US -Tochter A&P ist von einem US-Investor zur Übernahme der britischen Kette Gateway eingeladen worden - der Investor hat Geld und will noch mehr davon sehen, während A&P die Kette betreiben soll.

„Für uns hat 1992 schon lange vorher begonnen“, sagt denn auch Karl-Heinz Niehüser, der Geschäftsführer der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels (HDE). Die Vielfalt der Läden wird dabei wegen der veränderten Konsumgewohnheiten eher zunehmen - wenn das auch darauf hinauslaufen kann, daß sich die Citys noch ähnlicher werden, da überall die gleichen Filialisten anzutreffen sind.

Auch ohne den Binnenmarkt würde sich die Handelsszene in den kommenden Jahren weiter gründlich verändern - der Binnenmarkt vergrößert aber die Zahl der möglichen Verlierer. Nur diejenigen Firmen bleiben im Geschäft, die sich wenigstens einigermaßen schnell auf die neuen Einkaufsgewohnheiten der Kundschaft einstellen werden. Die im engeren Sinne binnenmarktbedingten Fusionen werden sich mischen mit „flexibilitäts- bedingten“ Fusionen, sei es bei Firmen, die zu unbeweglich sind und deshalb billig dem Kaufhunger der Konkurrenz anheimfallen, sei es bei Firmen, die so erfolgreich waren, daß sie deshalb ins Augenmerk der Branchengroßen geraten.

„Trainieren Sie das Schießen auf bewegliche Ziele“, empfahl Ende September in Bremen auf der Fachtagung „Handel 2010“ der Geschäftsführer der Nürnberger GfK-Marktforschung Rüdiger Szallies. Denn, so sein Szenario, neue hochflexible Trendgruppen werden in den kommenden Jahren Leitbilder für größere Bevölkerungsteile: junge Doppelverdiener, berufstätige Frauen mit qualifizierter Berufsausbildung, vermögende kinderlose Etablierte und Senioren mit überdurchschnittlichem Einkommen, die „jungen Alten“.

Rational nur

bei Grundbedürfnissen

Mit wachsendem Wohlstand - Szallies zufolge sind die Arbeitslosen eine vernachlässigbare Größe - werden sie für veränderte, schwerer berechenbare Nachfragestrukturen sorgen. Die Kundschaft hat es nicht mehr nötig, sich rational und ökonomisch zu verhalten, vor allem dann nicht, wenn es sich um Ausgabenkategorien handelt, die „dem Wunsch nach komfortabler und erlebnisreicher Freizeitgestaltung entsprechen sollen“. Rationalität ist nur dann erforderlich, wenn er - Szallies differenziert nicht nach Geschlechtern bei Deckung des Grundbedarfs seinem Ruf als mündiger, selbstbewußter Konsument gerecht werden muß. Hier entpuppt er sich als Verbraucher, der mit „geradezu sportivem Ehrgeiz“ dem günstigsten Angebot von Einkaufsstätte zu Einkaufsstätte hinterherhechelt.

„Otto Normalverbraucher“, so Rüdiger Szallies, „wird somit ad acta gelegt und abgelöst durch den postmodernen Anything -goes-Typ 'Markus Möglich‘, der für alles alle Optionen offenläßt, auch für Bescheidenheit: Der Genuß des Einfachen, als gewollter Kontrast zum Opulenten, demonstriert ein höheres Konsumniveau, das durchaus teuer sein darf: 'Markus Möglich‘ hat einen einfachen Geschmack, für ihn ist das Beste gerade gut genug.“

„Der Einzelhandel steht vor seiner größten Herausforderung“, setzt Horst Opaschewski nach, Professor an der Uni Hamburg und Leiter des BAT-Freizeit -Forschungsinstituts. „In dieser Situation kann die Kurzformel 'Shopping als Erlebnis‘ zur Überlebensform für den Einzelhandel werden: wenn sich die Einkaufszentren zu Erlebniszentren wandeln, in denen Einkaufen beinahe nebenbei erledigt wird, wettergeschützt in behaglicher Atmosphäre.“ Die Zukunft gehört nach Opaschewski den „klimatisierten Shopping-Landschaften“, den Fußgängerzonen unter Dach, den Straßencafes und Wochenmärkten mit Glaskuppeln.

Nun suggeriert die „neue Unberechenbarkeit“ eine weitgehende Autonomie der Konsumenten. Im monströsen Shopping-Zentrum „Weser-Park“, das demnächst in Bremen eröffnet werden soll, sind 60 Fachgeschäfte und Filialisten präsent, dazu kommen unter anderem 20 Arztpraxen, zehn Kinos und ein Spaßbad. Die Geschäfte sind entlang einer 400 Meter langen Haupteinkaufspassage angeordnet. Auf der Perspektiven -Tagung in Bremen waren sich die Experten einig, daß der Trend immer mehr in die Ausdifferenzierung von Angebot und Nachfrage geht. „Be different - it pays“: Sei anders, es macht sich bezahlt, brachte es Einzelhandelsfunktionär Niehüser auf den Begriff aus dem US-Management, das diese Strategie der verfeinerten Zielgruppenorientierung bis hin zum „Mikro-Marketing“ schon seit ein paar Jahren verfolgt. „Undifferenzierte Sortimentsanbieter werden Wachstumsverluste hinnehmen müssen„; Wachstumsgewinne werden hingegen die Firmen aufweisen, die sich spezialisieren. In den Warenhäusern ist dieser Trend schon vielfach zu sehen: Auch wenn sich das ganze Angebot noch unter einem Dach befindet, sind Brötchen und Blumen, Schuhe und Frischobst schon häufig aus dem allgemeinen Angebot ausgegliedert. Das geht bis hin zu „Shop in Shop„-Lösungen, in denen das Kaufhaus nur noch aus den Mauern, dem Marketing und dem Management besteht, während im Innern die Einzelhändler ihre Fachgeschäften auf eigene Faust betreiben.

„Verbraucher merkt nichts“

Oder der Zukauf außerhalb: Karstadt stieg durch den Kauf von zwölf „Baby-Walz„-Geschäften in den Markt für Baby-Artikel ein, Kaufhof will über die Elektronik-Anbieter Saturn/Hansa, Media-Markt und Völkner und den Schuh-Discounter Reno wachsen. Hertie geht mit Schürmann, Schaulandt, Schlembach und World of Music (WoM) in die Elektronik. Die Massa/Asko -Gruppe wurde im Möbelhandel aktiv, Rewe/Leibbrandt in der Konsumelektronik. Insgesamt, so der Branchendienst „BBE Chef -Telegramm“, wollen die Konzerne weg vom anonymen Großwarenhaus: „Fachgeschäfte oder Fachgeschäftsatmosphäre sollen in Zukunft Erfolg bringen.“ Da erstaunt es auch nicht, daß der Versandhändler Quelle die Textilhandelskette Leffers mit ihren sieben Filialen haben will: Die selbstbewußter gewordene Kundschaft honoriert die Beratungsmöglichkeit durch Fachpersonal mit mehr Umsatz und löst damit prompt eine weitere Konzentrationswelle aus.

„Von dieser Entwicklung wird der mittelständische Fachhandel unmittelbar betroffen“, klagt Günter Olesch, Chef der Bundesvereinigung Deutscher Einkaufs- und Verbundgruppen des Handels. Häufig erfolgt nämlich diese Diversifikation durch die Übernahme gesunder mittelständischer Betriebe. „Und die ehemaligen Unternehmer werden als Geschäftsführer gehalten, um dem Großbetrieb das Branchen-Know-how zu erhalten.“ Der wäre außerdem dumm, wenn er nicht den gewohnten Namen des Kaufhauses oder des Fachgeschäfts beibehielte. Handelfunktionär Niehüser erwartet: „Der Konzentrationsprozeß wird fortschreiten, ohne daß es der Verbraucher merkt.“