Abgeordnete flüchtet zur SPD: Grüne scheitern mit Integration
Zwei Integrationsexpertinnen sind zu viel: Trotz Zugeständnissen muss die Partei Bilkay Öney ziehen lassen. Nicht alle in der Fraktion macht das traurig - die Neue, Canan Bayram, sei inhaltlich ein Gewinn.
Selten waren die Grünen so ratlos wie am Mittwoch, dem Tag eins nach dem Parteiaustritt ihrer Abgeordneten Bilkay Öney. "Ich verstehe es nicht", war in der Fraktion immer wieder zu hören und: "Das ist verrückt." Nie habe die Integrationsexpertin Wechselabsichten erkennen lassen. "Das ist ein schwerer Schlag für uns", erklärte Fraktionschef Volker Ratzmann.
Öney hatte am Dienstagabend überraschend verkündet, die Grünen zu verlassen und zur SPD zu wechseln. Ihr passten offenbar generell ein paar Dinge nicht, etwa das Kokettieren mit einer Jamaika-Koalition. Auslöser war aber der Wechsel der vormaligen SPD-Abgeordneten Canan Bayram zu den Grünen in der vorigen Woche, der die Mehrheit der rot-roten Regierung im Abgeordnetenhaus auf eine Stimme reduziert hatte.
Nach Tagen des Triumphes über den Zugang Bayrams und Forderungen nach Neuwahlen musste sich die grüne Fraktionsführung am Mittwoch fehlende Sensibilität vorhalten lassen - ausgerechnet von CDU-Fraktionschef Frank Henkel, den die Grünen schon mal als Polterer abtun. "Die Grünen tragen die Verantwortung, dass Wowereits Mehrheit wiederhergestellt ist", sagte Henkel.
Nach Angaben aus der SPD-Fraktion gab es seit vergangener Woche Kontakt zu Öney. Daran war neben dem integrationspolitischen Sprecher Raed Saleh auch Fraktions- und Parteichef Michael Müller beteiligt. Öney soll keine Bedingungen gestellt haben. Für Saleh war sie "schon immer Sozialdemokratin". Auch Fraktionsvize Fritz Felgentreu sieht "in vielen Punkten eine Affinität". Sie soll auch Fan von Innensenator Ehrhart Körting sein. Bis Redaktionsschluss war Öney aber weder der SPD-Fraktion noch der Partei beigetreten.
Wie CDU-Mann Henkel mokierte sich auch die SPD über das voreilige Triumphgeschrei der Grünen nach dem Zugang Bayrams. "Die haben mal wieder überzogen, wie nach der Wahl 2006", sagte ein Parlamentarier und erinnerte daran, dass die Grünen damals intern schon Senatsposten verteilten, bevor es zur Neuauflage von Rot-Rot kam.
Dass Öney über den Wechsel Bayrams vergangene Woche nicht glücklich war - beider Arbeitsfeld ist die Integrationspolitik -, hatte man in der Grünen-Fraktion durchaus bemerkt. "Sie war die Einzige, die auf die Nachricht mit versteinertem Gesicht reagierte", hieß es. Dass Öney aber mit Parteiaustritt reagieren könnte, habe man nicht gedacht. Vor allem, weil sie nach Grünen-Angaben ihre Posten - migrationspolitische Sprecherin und Mitglied im Innen- und Sozialausschuss - behalten sollte. "Wir haben bis zum Ende Gespräche mit Öney geführt", so Fraktionsvize Ramona Pop. "Ich weiß nicht, was wir noch hätten anbieten sollen." Für Konkurrenz zwischen Öney und Bayram habe es keine Grundlage gegeben. Bayram berichtete dagegen der taz, dass sie als "nötige Verstärkung" begrüßt wurde.
Öneys Austrittsbegründung, Rot-Rot stärken zu wollen, um eine Koalition von CDU und FDP auf Bundesebene zu verhindern, hält Pop für nicht haltbar. "Schwarz-Gelb verhindert man am besten mit Rot-Grün", so Pop.
Noch am Dienstagmittag soll es keine Anzeichen für Austritt gegeben haben. Darum habe es auch keine Unruhe darüber gegeben, dass Öney und Fraktionschefin Franziska Eichstädt-Bohlig fehlten, als die Fraktion ab 15 Uhr wie stets dienstags in Raum 304 des Parlaments tagte. Tatsächlich aber lief parallel offenbar der letzte Versuch, Öney umzustimmen - vergeblich.
Auf ihrer Internetseite zitiert Öney Albert Einstein: "Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde sein zu können, muss man zunächst mal Schaf sein." Allzu sehr scheinen die Grünen ihrem entlaufenen Schaf nicht nachzutrauern, selbst wenn die Fraktionsspitze von einem Verlust spricht. Neumitglied Bayram sei mehr als ein Ersatz. Noch weiter geht der Abgeordnete Benedikt Lux: "Mittelfristig haben wir mit Bayram einen inhaltlichen Gewinn gemacht."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Die Wahrheit
Der erste Schnee
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten