Muttersprachliche Therapeuten fehlen: "Ein Brücke für die Integration"
Muttersprachliche Therapie für MigrantInnen mit psychischen Problemen ist integrationsfördernd, meinen die Therapeutinnen Hatice Kadem und Esin Erman. Das Angebot aber ist rar.
An diesem Wochenende findet in Berlin die Jahrestagung der Gesellschaft für Türkischsprachige Psychotherapie und psychosoziale Beratung (GTP) statt. Im Mittelpunkt steht die Vernetzung von Personen und Einrichtungen, die an der psychosozialen Versorgung von EinwanderInnen türkischer Herkunft
beteiligt sind. In Berlin hat die GTP etwa 50 Mitglieder, dazu gehören auch FamilienberaterInnen, Sozialarbeiter und Wissenschaftler. GTP-Vorstandsmitglied Esin Erman schätzt die Zahl niedergelassener Psychiater türkischer Herkunft in Berlin derzeit auf drei bis vier, türkischstämmige Kinder- und Jugendpsychiater gibt es genau zwei. Nur 30 bis 40 der insgesamt 3.300 approbierten PsychotherapeutInnen in Berlin sind türkischstämmig.
taz: Frau Erman, bei der Jahrestagung der Gesellschaft für türkischsprachige Psychotherapie und psychosoziale Beratung geht es um Vernetzung. Wer oder was soll vernetzt werden?
Esin Erman: Unsere Mitglieder arbeiten teils in eigenen Praxen, teils in medizinischen oder psychosozialen Einrichtungen, manche auch in Behörden, wie ich. Wir wollen uns besser untereinander, aber auch mit KollegInnen anderer Professionen vernetzen, die sich mit dem Themenkreis transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie auseinandersetzen, um gemeinsame Strategien zu entwickeln.
Strategien wofür?
Erman: Für eine bessere psychosoziale Versorgung von MigrantInnen. Das Thema gewinnt zwar an Aufmerksamkeit, aber die Versorgungslage ist immer noch schlecht. Bei meiner Arbeit im Gesundheitsamt bekomme ich täglich Anrufe von verzweifelten PatientInnen, die auf der Suche nach muttersprachlicher Psychotherapie sind. Obwohl ich sie eigentlich behandeln könnte, da ich alle Voraussetzungen erfülle, um als niedergelassene Therapeutin zu arbeiten, muss ich diese Anrufer aber abweisen.
Warum das?
Erman: Weil es in Berlin einen Niederlassungsstopp für PsychotherapeutInnen gibt. Gleichzeitig haben die wenigen niedergelassenen KollegInnen türkischer Herkunft auch lange Wartelisten und müssen ebenfalls täglich PatientInnen abweisen. Wir fordern deshalb Sonderzulassungen von TherapeutInnen mit muttersprachlichen Kompetenzen. Dies wird aber bisher rigoros abgelehnt - mit dem Hinweis, die Zuwanderer sollten schließlich Deutsch lernen.
Warum suchen PatientInnen denn speziell nach türkischsprachiger Behandlung?
Erman: Manche haben nicht die Sprachkompetenz, um zu einem deutschen Kollegen zu gehen. Andere haben Angst, dass sie dort missverstanden werden oder in ihrer Andersartigkeit keine Anerkennung finden könnten. Dabei handelt es sich oft um sehr schwere Erkrankungen, etwa Depressionen und Traumatisierungen aufgrund von Gewalt- oder auch Foltererfahrungen. Manche haben lange Fehlbehandlungen hinter sich, weil sie auf der Suche nach Hilfe von Arzt zu Arzt gelaufen sind.
Frau Kadem, in Ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist Sprache doch vermutlich kein Problem mehr, oder?
Hatice Kadem: Ich spreche mit den Kindern meist Deutsch. Aber in der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung arbeiten wir auch mit den Eltern. Viele kommen mit Befunden und Empfehlungen aus unterschiedlichsten Kliniken oder Diagnosezentren hierher, die ihnen nicht helfen, weil sie sie nicht verstanden haben. Da fühlen sie sich hier eher angenommen.
Gibt es spezielle Krankheitsbilder bei den MigrantInnen oder ihren Kindern?
Kadem: Wenn Eltern traumatische Erfahrungen gemacht haben, Gewalt- oder Folteropfer waren, dann hat das Auswirkungen auf die Kinder. Sie tragen die Dinge aus. In vielen Familien sind Kinder die Symptomträger. Deshalb ist es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie sehr wichtig, intensiv mit den Eltern arbeiten zu können. Grundsätzliche Unterschiede in den Krankheitsbildern gibt es dabei nicht, aber der Umgang mit der Erkrankung ist in migrantischen Familien häufig ein anderer.
Welche Folgen hat das für Ihre Arbeit?
Kadem: Ich lege großen Wert darauf, zu wissen, aus welchen Motiven etwa die Eltern nach Deutschland kamen, wie alt sie waren, was ihre Ausbildung ist. Ich finde es wichtig, zu wissen, was es bedeutet, wenn eine Mutter mir sagt, sie habe in der Türkei die Grundschule bis zur dritten Klasse besucht. Was ist deren Wissensstand? Daran muss ich meine Erwartungen orientieren und schauen: Wo kann ich sie abholen? Wohin kann ich sie begleiten?
Erman: Einen Unterschied gibt es noch: Die Angst vor der Einmischung durch Ämter ist bei MigrantInnen oft stärker ausgeprägt. Das hat mit Informationsdefiziten zu tun, aber auch mit der Angst vor dem, was passiert, wenn innerfamiliäre Probleme bekannt werden. Viele befürchten, dass das Jugendamt ihnen dann die Kinder wegnimmt. Da eine Vertrauensbasis herzustellen fällt uns als MuttersprachlerInnen vielleicht leichter. Aber wir vertreten nicht die Position, dass wir die besseren BehandlerInnen sind. Es geht nicht darum, dass Türken Türken behandeln sollen.
Sondern?
Erman: Es ist wichtig, Verständnis dafür zu haben, dass Krankheitskonzepte kulturell unterschiedlich sind. Dass Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen Erkrankungen anders beschreiben. Sensibilität dafür erfordert nicht unbedingt die gleiche kulturelle Herkunft. Wir haben ja auch viel zu tun mit Menschen, die uns zunächst fremd sind: bildungsferne Familien, HeiratsmigrantInnen, Frauen in Ausbeuterbeziehungen, die sie aus aufenthaltsrechtlichen Gründen nicht verlassen können. Häufig ist da viel mehr Unterstützung nötig, als deutsche Klienten und Patienten brauchen würden.
Wie sieht die aus?
Erman: Ich muss informiert sein über Fachangebote von Beratungsstellen oder Antigewaltprojekten, über passende Zufluchtsorte oder AnwältInnen, über Deutsch- und Integrationskurse, über die Angebote des Jobcenters und des Jugendamts. Für solche umfassenden Beratungs- und Behandlungskonzepte braucht man Zeit und eine besondere Sensibilität.
Kadem: Noch ein anderer Aspekt ist sehr wichtig: Wir bieten auch andere Identifikationsmöglichkeiten. Ich habe junge Patientinnen, 16-, 17-jährige Mädchen, die sich in dieser Phase der Adoleszenz fragen, wo sie stehen, wer sie sind, wo es eigentlich hingehen soll. Die fragen häufig auch gezielt nach türkischstämmigen Psychotherapeutinnen.
Warum?
Kadem: Sie haben das Gefühl, von uns besser verstanden und anders begleitet zu werden. Nicht vor radikale Entscheidungen gestellt zu werden wie etwa: Wenn du weg von deinen Eltern willst, dann zieh doch aus.
Erman: Ein junges Mädchen mit Migrationshintergrund, das hier lebt und wahrscheinlich auch hier geboren ist, das in beiden Kulturen zu Hause sein will, will sich identifizieren mit einem Gegenüber, das das vielleicht schon realisiert hat. Da haben wir auch Vorbildfunktion. Insofern ist die muttersprachliche Therapie gerade nicht, wie manche leider denken, integrationshinderlich. Im Gegenteil: Sie bietet eine Brücke für die Integration.
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