Leute: Die Nervensäge mit Deutschlandtick
Seit Jahren steht Gustav Rust vor den Gedenkkreuzen für die Mauertoten am Tiergarten und wettert gegen die "rote Gefahr". Seine kruden, teils antisemitischen Tiraden regen viele Passanten auf.
Touristen bleiben gegenüber dem Reichstag am Zaun des Tiergartens stehen und lesen die Namen und Todesdaten auf den Kreuzen. 14 weiße Kreuze sind hier angebracht - zum Gedenken an die Menschen, die beim Fluchtversuch aus der DDR erschossen wurden. Zwischen den Kreuzen hängen Plakate mit Bildern von ausgemergelten Menschen aus den Konzentrationslagern der Nazis, darunter steht: "Das ist nicht Auschwitz! Das sind deutsche Opfer!" Auf einem anderen Pamphlet ist die Rede von "russischen und asiatischen Horden" und davon, dass die "bolschewistischen Verbrechen" nicht erst am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus, sondern schon 1944 begonnen hätten. Was hat das mit den Mauertoten zu tun?
Für Gustav Rust eine ganze Menge. Seit Jahren führt der 67-Jährige hier vor der Gedenkstätte seinen privaten Kleinkrieg gegen "den roten Terror", wie er erklärt. Gustav Rust ist ein hochgewachsener Mann mit kahlem Schädel und auffälligen Zahnlücken. An seiner linken Hand baumeln Handschellen, unter dem grauen Anorak kann man auf seinem T-Shirt lesen: "Literatur und DVDs gegen das Vergessen".
Gegen das Vergessen anzukämpfen ist seine Mission. "Nur noch Holocaust, Holocaust, Holocaust. Aber was den Deutschen angetan wurde, davon redet keiner", schreit er gestikulierend vor der Gedenkstätte. Ohne Genehmigung hängt er hier seine Plakate auf und sammelt Spenden für die Blumen an den Kreuzen. Die meisten Touristen merken nicht, dass hier eine krude Geschichtsverklitterung stattfindet. "Das alles darf nicht vergessen werden, wir haben das ja damals alles miterlebt", sagt ein älterer Mann. Eine Frau wirft Münzen in die Spendendose: "Für die Deutschen spende ich immer gern." Und schon ist Gustav Rust da, erzählt ihr, dass der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Deutsche ins Konzentrationslager geschickt habe. Sie nickt und sagt: "Ja, den kenn ich aus dem Fernsehen, da macht er immer alle fertig." Davon, dass Reich-Ranicki selbst Überlebender des Warschauer Gettos ist, will Rust nichts hören. "Das kann man alles im Internet nachlesen", so seine Standardantwort.
Doch Passanten, die Rusts Pamphlete genauer lesen, werden ärgerlich. Ein Mann hebt an: "Die Mauertoten einerseits und dann diese Verdrehung der Geschichte, das ist …" - da fällt Rust ihm ins Wort. "Was ist denn daran verdreht?" - "Deutschland hat den Krieg angefangen, und das hier sind Naziparolen", schreit der Passant und geht weiter. "Du weißt doch noch nicht mal, wie ,Nazi' geschrieben wird", brüllt Rust ihm hinterher.
Für die meisten Passanten ist er einfach ein Durchgeknallter. Rusts legitimiert sich so: Er ist selbst ein Opfer des DDR-Staatssicherheitsdienstes. Neun Jahre hat er in DDR-Gefängnissen verbracht. Dass er unter anderem schon damals wegen ähnlicher Äußerungen verurteilt wurde, erzählt er den wenigsten. "Bei der Nationalen Volksarmee habe ich 1958 gesagt, dass sie auf der Deutschlandkarte Ost- und Westpreußen und Schlesien vergessen hätten. Da haben die mich verurteilt, weil ich die Oder-Neiße-Friedensgrenze nicht anerkenne", sagt er und lacht.
Von der Stasi spricht er wenig, auch auf seinem Büchertisch sind nur zwei Bücher über den Geheimdienst zu finden. Stattdessen gibt es die Deutsche Militärzeitschrift, die Preußische Allgemeine Zeitung und Bücher wie zum Beispiel "Als das Deutsche Reich zerfiel" oder "Dokumente polnischer Grausamkeit". "Solche Bücher finden sie in Buchhandlungen nicht", sagt Rust, "aber vom Stasi-Wolf das Kochbuch, das ham se".
Dass der Mann seit Jahren an exponierter Stelle derartige Reden schwingen darf, liegt zum einen daran, dass völlig unklar ist, wer für die Gedenkkreuze verantwortlich ist. Sie gehören zum offiziellen Mauergedenken der Stadt, so der Pressesprecher der Senatskulturverwaltung Thorsten Wöhlert. Nein, das sei eine private Initiative von Gustav Rust, lautet die Auskunft des Grünflächenamts Berlin-Mitte; für die Polizei ist dafür die "Arbeitsgemeinschaft 13. August" verantwortlich, deren Vorsitzende Alexandra Hildebrandt auch das Mauermuseum am Checkpoint Charly leitet. Doch Rainer Klemke, Leiter der Senatskulturabteilung für Gedenkstätten, stellt klar: "Die Kreuze vorm Reichstag waren nie eine offizielle Gedenkstätte, es handelte sich um die vorübergehende Verlagerung der Kreuze vom westlichen Spreeufer, die aber schon längst wieder dort hängen."
Die Geschichte um die Mauerkreuze begann schon 1971. Zum zehnjährigen Bestehen der Berliner Mauer hatte ein Bürgerverein an der Spree die Kreuze angebracht, um an auf der Flucht erschossene oder ertrunkene DDR-Bürger zu erinnern. 1989 begannen die Umbauarbeiten auf dem Reichstagsgelände. Deshalb wurden die 14 Gedenkkreuze am Zaun des Tiergartens Scheidemannstraße Ecke Ebertstraße aufgehängt. 2003 wurden dann künstlerisch neu gestaltete Kreuze am Spreeufer vor dem Paul-Löbe-Haus angebracht, und die Gedenkstätte vorm Reichstag sollte geräumt werden. Doch dagegen protestierte der "Bund der Mitteldeutschen", der sich um die Kreuze kümmerte, und wollte, dass sie dort bleiben, da das Spreeufer zu weit ab von Touristenrouten lägen. So blieben die Kreuze bis heute hängen.
Mit Gustav Rust, der schon seit 1995 immer wieder vor der Gedenkstätte auftaucht, will der "Bund der Mitteldeutschen" allerdings nichts zu tun haben. "Das ist schon ein jahrelanger Kampf. Ich gehe regelmäßig hin und hänge ihm die Plakate ab, aber er kommt immer wieder. Ich habe ihn auch schon mehrfach angezeigt, aber es passiert nichts", erklärt Juliane Kleinschmidt, die Vorsitzende des Bundes.
Sie ist nicht die Einzige, die sich über ihn beschwert hat. Rust hat Touristen verprügelt und einen polnischen Militärattaché tätlich angegriffen. Bundestagsabgeordnete hatten daraufhin Bundespräsidenten Horst Köhler aufgefordert, etwas gegen Rust zu unternehmen. Doch zuständig für Rust ist allein das Straßen- und Grünflächenamt Berlin-Mitte, da die Gedenkstätte auf dem Tiergartengelände steht. Das Amt hat ihn mehrmals räumen lassen und Bußgelder verhängt, doch Rust ist hartnäckig und baut am nächsten Tag alles wieder auf. Auch eine Angehörige der an der Gedenkstätte Geehrten habe sich jetzt beim Grünflächenamt über Rust beschwert, erzählt der Leiter des Amts, Harald Büttner. "Ich kriege ihn aber mit meinen Mittel da nicht weg. Dass er da steht, ist noch keine Straftat. Und allein mache ich da jetzt nichts mehr. Er hat meinen Mitarbeitern mehrfach Prügel angedroht", so Büttner.
Bei Drohungen gegen Passanten und Touristen ist es nicht immer geblieben - und so hat die Polizei Gustav Rust schon mehrmals festgenommen. 2004 und 2007 wurde er wegen Körperverletzung verurteilt. "Derzeit können wir nur tätig werden, wenn strafrechtlich relevante Äußerungen bekannt werden. Das ist im Moment nicht der Fall", so Polizeipressesprecher Bernhard Schodrowski. Und solange er nicht wieder jemanden angreift und ihn niemand wegen Volksverhetzung oder Beleidigung anzeigt, kommt Gustav Rust jeden Tag hierher und klärt die Touristen zwischen Brandenburger Tor und Reichstag auf: über die "rote Gefahr", die überall lauert.
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