portrait : Der Tapfere mit der Todessehnsucht
Meine letzte Freiheit ist mein Tod.“ Noel Martin will selbstbestimmt sterben, das hat der Brite immer wieder gesagt. Jetzt, nach zehn Jahren im Rollstuhl, nannte er gegenüber dem RBB-Fernsehen einen Termin: den 23. Juli 2007. Es wird sein 48. Geburtstag sein.
An einem Montag also will das Opfer rassistischer Gewalt sterben. Zehn Jahre Leben als Schwerstpflegefall hatte er sich noch gegeben, als er 1996 aus dem Koma aufwachte und lernen musste, zu akzeptieren, dass aus ihm, dem lebenslustigen britischen Bauarbeiter, ein Krüppel geworden war. 2007 werden es elf Jahre sein.
Am 16. Juni 1996 beschimpften rechte Jugendliche im brandenburgischen Mahlow Noel Martin und seine beiden ebenfalls dunkelhäutigen Kollegen mit rassistischen Sprüchen. Die britischen Vertragsarbeiter flohen mit dem Auto, Martin fuhr. Bei der Verfolgungsjagd warf einer der jungen Neonazis einen Feldstein nach dem Jaguar, Martin verlor die Kontrolle über den Wagen und fuhr frontal gegen einen Baum. Seit diesem Sonntag ist Noel Martin vom Hals abwärts gelähmt.
Er hat versucht, aus diesem Zipfel Leben etwas Sinnvolles zu machen. Hat mit seiner Frau Jackie den „Noel und Jacqueline Martin Fonds gegen Rassismus“ gegründet, hat Schüler aus Brandenburg nach Birmingham eingeladen, damit sie sich selbst ein Bild davon machen können, welche Folgen Rassismus für die Betroffenen haben kann. Er ist sogar noch einmal nach Mahlow zurückgekehrt, um den Bürgern ins Gesicht zu schauen. Aber seit Jackie im April 2000 an Krebs gestorben ist, hat es für mehr als Tapferkeit kaum noch gereicht.
Heute wird er in seinem Reihenhaus in Birmingham von neun Pflegern Tag und Nacht versorgt. Er braucht jemanden, der ihm die Zigarette hält, der die Zeitung umblättert, für jeden Schluck und jeden Bissen – gefangen im eigenen Körper, der zusehends verfällt. Draußen im Garten liegt Jackie begraben. „Mit ihr habe ich den Schlüssel zum Glück verloren“, hat er vor einem Jahr der Märkischen Allgemeinen gesagt.
Am vergangenen Freitag hat sich der Überfall zum zehnten Mal gejährt. Noel Martin ist diesmal nicht nach Mahlow gekommen, er ist zu schwach. Die Mahlower haben trotzdem an ihn gedacht. Siebzig Menschen gingen durch ihre Kleinstadt zu der Stelle, wo 1996 die Verfolgungsjagd beinahe tödlich endete. Wenige, wenn man bedenkt, welch weltweit schlechten Ruf die Gemeinde ausräumen möchte.
Vielleicht sind sie an den Häusern der heute 28 und 34 Jahre alten Täter vorbeigekommen – Mario P. und Sandro R. wohnen seit ihrer Haftentlassung wieder in Mahlow. Bei ihrem Opfer haben sie sich nicht entschuldigt. ANJA MAIER