: No-go-Zone wächst
Überfall auf einen Politiker facht die Debatte über Fremdenfeindlichkeit erneut an
von FELIX LEE
Da tobt seit Tagen ein heftiger Streit über das Ausmaß rechtsextremer Gewalt in Ostdeutschland. Und dann so etwas: Wie die Polizei vermeldet, ist der migrationspolitische Sprecher der Linkspartei.PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Gyasettin Sayan, am Freitagabend im Ostberliner Bezirk Lichtenberg Opfer eines „offenbar fremdenfeindlichen Überfalls“ geworden. Zwei Männer hätten den 56-Jährigen gegen 22.30 Uhr im Berliner Stadtteil Lichtenberg zunächst als „Scheißtürken“ beschimpft und ihn dann mit einer Flasche auf den Kopf geschlagen. Als er versuchte, zu entkommen, sei er von hinten niedergeschlagen worden. Sayan liegt schwer verletzt mit einer Gehirnerschütterung in einem Berliner Krankenhaus. Die Polizei geht von einem „extremistischen Hintergrund“ aus. Von den Tätern fehlt jede Spur.
Nun, vielleicht hätte der PDS-Politiker diesen Teil von Lichtenberg nicht mehr betreten sollen. Der Weitlingkiez ist bekannt dafür, dass man als nichtdeutsch Aussehender dort nicht hingeht. Zumindest nicht um diese Uhrzeit. Das Problem: Sayan wohnt in Lichtenberg. „Der Türkischstämmige ist vor Jahren bewusst in diesen Teil Ostberlins gezogen“, sagt Parteifreundin und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linkspartei.PDS). Er wollte ein Zeichen setzen.
Seit fast 30 Jahren lebt Sayan in Berlin. Er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Von 1982 bis 1995 war er Mitglied der Grünen, seit 1995 sitzt er für die Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus. Er ist migrationspolitischer Sprecher und vertritt dort einen der fünf Wahlkreise in Lichtenberg. Dazu gehört auch der Weitlingkiez.
Seit der Wende gilt der Kiez als Hochburg von Rechtsextremisten. Während sich die Polizei im angrenzenden Friedrichshain Anfang der 90er-Jahre überwiegend mit linken Hausbesetzern heftige Straßenschlachten lieferte, konnten Neonazis von der Öffentlichkeit fast unbemerkt leer stehende Häuser in der Weitlingstraße beziehen. Diese rechte Struktur gibt es auch heute noch. Angehörige der inzwischen verbotenen Berliner Kameradschaft „Tor“ wohnen hier, es gibt eine Szenekneipe und einen Laden für rechte Hooligans. Von „No-go-Area“ oder gar „Nationalbefreiter Zone“, wie es die Neonazis selbst bezeichnen, wollte ein Polizeisprecher gestern nicht sprechen. Es handele sich bloß „um eine bevorzugte Gegend von Neonazis“. Richtig sei, „dass sich die Rechten im Weitlingkiez wohl fühlen“. Deswegen habe die Polizei „ein besonderes Augenmerk auf diese Gegend“. Erst vor vier Wochen hatten Neonazis einen vietnamesischen Blumenhändler angegriffen und seinen Laden zerstört. „Heil Hitler, das macht man so in Lichtenberg“, hatten sie gebrüllt.
In der Berliner Linkspartei gibt es aber auch ganz andere Einschätzungen. Gestern wollte die Linkspartei eigentlich ihre Kandidaten für die Abgeordnetenhauswahlen am 17. September nominieren. Sayans Kandidatur galt innerparteilich bereits als chancenlos. Ob er nun versucht hat, aus der Debatte um so genannte No-go-Areas seinen eigenen Profit zu schlagen – dazu wollte in der Partei namentlich niemand zitiert werden. Es gibt jedoch Stimmen, die an Sayans Version zweifeln.
Die Debatte um das Ausmaß rechtsextremer Gewalt geht indessen weiter. Heute will nun auch das Bundesinnenministerium den Verfassungsschutzbericht von 2005 veröffentlichen. Demnach gab es nicht nur deutlich mehr rechtsextreme Skinhead-Konzerte. Auch die Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten ist im Vergleich zum Vorjahr um 400 auf insgesamt 10.400 gestiegen. Doch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble bleibt dabei: Jeder könne sich sicher fühlen, „egal, wo in Deutschland er sich aufhält“, sagte Schäuble.
Aktuell verfolgen Neonazis eine ganz neue Strategie. Sie wollen die Fußball-Weltmeisterschaft nutzen, um nun auch weltweit auf sich aufmerksam zu machen. Auf rechten Internetseiten mobilisieren sie zu einer Demonstration am 10. Juni in Gelsenkirchen und zu einem Aufmarsch zum Spiel Iran gegen Angola am 21. Juni in Leipzig. Dort wollen sie ihre Sympathie für den iranischen Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad bekunden, der den Holocaust leugnet und Israel das Existenzrecht abspricht. Zudem findet das Spiel am Geburtstag des Neonazi-Idols Michael Kühnen statt, der 1991 an Aids starb. Kühnen war homosexuell. Aber das scheint die Neonazis nicht zu stören.