piwik no script img

Archiv-Artikel

„Er wäre ausgestoßen worden“

Der Bruder von Hatun Sürücü hat seine Schwester nicht aus eigenem Antrieb ermordet. So sieht es die deutschkurdische PDS-Abgeordnete Evrim Baba. Heute wird im Prozess ein Urteil erwartet

Interview ALKE WIERTH

taz: Frau Baba, leben Sie eigentlich wie eine Deutsche?

Evrim Baba: Manche würden mich vielleicht so einordnen. Aber man muss schon fragen, was das eigentlich bedeuten soll: leben wie eine Deutsche. Ich lebe seit meinem 18. Lebensjahr allein, bin nicht verheiratet und genieße meine Freiheit, wie eine Frau das machen sollte. Berlin ist meine Heimat, aber ich bin dreisprachig kurdisch-türkisch-deutsch aufgewachsen und habe mir aus beiden Kulturen das genommen, was mir gefällt. Aber meine Eltern haben mich gefördert, sie unterstützen meinen Lebensstil. Sie sind sehr progressiv.

Häufig werden traditionelle kurdisch-islamische Familienstrukturen für den Mord an Hatun Sürücü verantwortlich gemacht. Ist das richtig?

Ja. Es gibt kurdische Familien, die mit Wertvorstellungen leben, die von denen unserer Gesellschaft weit entfernt sind. Aber man muss unterscheiden: Ein großer Teil der Kurden sind Aleviten. Das ist eine islamische Religionsgemeinschaft, in der die Frauen in der Regel gleichberechtigt sind. Ehrenmorde oder Zwangsverheiratungen kommen dort eher nicht vor. Viele Kurden sind sehr politisiert, eher links orientiert, die haben auch andere Wertvorstellungen. Doch unter denen, die als Arbeitsmigranten hergekommen sind und überwiegend aus den ländlichen Regionen stammen, gibt es einige, die solchen archaischen partriarchalen Strukturen noch verhaftet sind. Das sind aber vielleicht zehn Prozent.

Warum haben sich solche Strukturen bis heute gehalten?

Das hat mit der sozialen Situation zu tun. Diese Familien sind nicht integriert, sie leben in ihrer eigenen Welt. Und es sind oft die islamischen Organisationen, die dann die Jugendlichen auffangen, die mit den daraus entstehenden Widersprüchen nicht klarkommen, die oft auch glauben, sie seien von dieser Gesellschaft nicht gewollt.

Die Brüder hatten ja Arbeit. Sie haben doch nicht völlig außerhalb der Gesellschaft gelebt.

Ja. Aber der Vater und die Mutter haben nicht gearbeitet. Und die Umgebung, in der sie sich bewegt haben, hat offenbar großen Einfluss auf die Familie gehabt. Religiöse Vereine, Moscheen, Imame haben in manchen Familien eine Macht, die uns gar nicht klar ist. Das ist ein Problem, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Ich habe ja im Gerichtssaal gehört, dass einer der Brüder sich den Mord von einem Imam hat legitimieren lassen. Er hat ihn gefragt, ob es legitim sei, wenn er seine Schwester töte, da sie Schande über die Familie brächte.

Und daraufhin wurde der Mord begangen?

Ich glaube, dass das von der Familie entschieden wurde. Es gibt ein Familiengericht und da wurde beschlossen, dass einer der Brüder, in diesem Falle der jüngste, die Ehre der Familie retten muss.

Was wäre passiert, wenn der Sohn sich geweigert hätte, den Mord zu begehen?

Dann wäre er ausgestoßen worden. Er wäre ja selbst eine Schande für die Familie, weil er sich geweigert hat, ihre Ehre zu retten. Er wäre dann im Prinzip in der gleichen Situation gewesen wie die, in der Hatun in den Augen ihrer Familie war.

Necla Kelek schreibt in ihrem Buch über türkisch-islamische Männer, diese wüchsen in „Familien ohne Liebe“ auf. Man kann den Eindruck tatsächlich bekommen, wenn ein Bruder seine Schwester ermordet.

Familien ohne Liebe – so würde ich das nicht nennen. Es gibt ja sehr verschiedene Vorstellungen von Liebe. In den Augen der Familie hat Hatun in einer Welt gelebt, die nicht in Ordnung war. Sie haben deshalb kein Unrechtsbewusstsein, sagen sogar, dass sie ihre Schwester gerettet hätten, dass sie jetzt im Paradies sei.

Hat der Mord an Hatun Sürücü auch in der kurdischen Community zu einer Debatte über diese Themen und Traditionen geführt?

Ja, auch unter kurdischen Migranten wurde sehr viel über die Themen Ehrenmord und Zwangsverheiratungen gesprochen. Es gab auch eine Diskussion über die Emanzipation der Frauen. Doch die Frage ist, wie gut wir diese betroffene Gruppe selbst erreichen, wie wir auch mit den entsprechenden Imamen ins Gespräch kommen. Ich glaube nicht, dass wir sie erreicht haben. Sie bewegen sich in anderen Strukturen, und es ist beispielsweise auch für mich schwer, an sie überhaupt heranzukommen. Also in die Moscheen, in die religiösen Vereine. Das sind die Orte, wo das Thema diskutiert werden müsste.

Und das passiert nicht?

Meines Erachtens ist das bislang nicht geschehen. Es wird zwar nach außen immer behauptet, aber ich glaube, in Wirklichkeit findet dort keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema statt.

report SEITE 5