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Archiv-Artikel

Die Zeuginnen der Anklage

Wer differenziert, hat schon verloren: Mit ihrer Kritik an Necla Kelek haben Migrationsforscher eine nötige Debatte angezettelt. Doch deren konservative Fürsprecher halten lieber an ihren Vorurteilen fest, als eine sachliche Integrationsdebatte zu führen

Von DANIEL BAX

Vor einer Woche veröffentlichten 58 Migrationsforscher, darunter Mark Terkessidis und Yasemin Karakasoglu, in der Zeit einen offenen Brief. Darin forderten sie, die deutsche Integrationspolitik solle sich besser auf Fakten stützen denn auf fragwürdige Kronzeuginnen wie die Bestsellerautorin Necla Kelek, die an dem diskriminierenden Einbürgerungs-Leitfaden in Baden-Württemberg mitgewirkt hat. Prompt konterte die Gescholtene mit einem klassischen Zirkelschluss: Ihre Kritiker seien selbst die Hauptschuldigen an den Integrationsproblemen, die es ohne sie nicht gäbe.

Doch wie absurd auch immer, Necla Keleks Wort hat inzwischen Gewicht – das sieht man schon daran, dass gleich drei Zeitungen, die taz inbegriffen, ihre Replik fast wortgleich druckten. So etwas hätte Martin Walser sicher auch gefallen. Schon als im vergangenen Jahr Keleks Buch „Die fremde Braut“ erschien, wurde es vom damaligen Innenminister Otto Schily wohlwollend besprochen, obwohl dieser in seiner Amtszeit nicht gerade durch den Kampf gegen Zwangsehen aufgefallen war. Niemand störte sich daran, dass Necla Kelek in „Die fremde Braut“ das genaue Gegenteil von dem behauptete, was sie einst in ihrer Doktorarbeit schrieb. Auch, dass sich die von ihr porträtierten Frauen nachträglich falsch zitiert und diffamiert fühlten, fand kein größeres Medienecho.

All das würde bei anderen als Nachweis von Opportunismus und mangelnder Seriösität genügen. Nicht aber bei Necla Kelek, der nun das konservative Feuilleton von FAZ und Welt zur Seite springt, um sie gegen die Kritik in Schutz zu nehmen und ihre Gegner gleich noch als weltfremde Deppen zu denunzieren.

Dabei war es gar nicht Necla Kelek, sondern der schockierende Mord an der jungen Hatun Sürücü, die vor einem Jahr in Berlin von ihrem Bruder erschossen wurde, der die Nöte türkischer Mädchen mit einer repressiven Familienmoral einer breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein rief. Im Fahrwasser dieser Empörung avancierte Necla Kelek bald zur gern zitierten „Expertin“ für alle Migrationsfragen, die alle Probleme schlicht auf „den Islam“ zurückführte.

Den Migrationsforschern ging es eigentlich darum, diese Debatte nun zu versachlichen. Doch wer sich Differenzierungen erlaubt, hat schon verloren. Als finales Argument dient die Unterstellung, ihre Kritiker wollten „eine notwendige Debatte verhindern“, wie es in der Welt im verschwörungstheoretischen Duktus heißt. Dabei war das Thema bislang keineswegs tabu, im Gegenteil: Der Topos von der unterdrückten türkischen Frau zieht sich seit fast 30 Jahren wie ein roter Faden durch deutsche und türkische Filme, von Yilmaz Güneys „Yol“ über „40 Quadratmeter Deutschland“ bis zu „Gegen die Wand“ von Fatih Akin. Ebenso lange schon stapeln sich tragische Erfahrungsberichte türkischer Frauen in deutschen Bücherläden, und der Spiegel hat mit solchen Geschichten immer wieder gern Schlagzeilen gemacht. Ein Tabu sieht anders aus.

Ein wenig erinnert die aktuelle Hysterie um Zwangsehen und Ehrenmorde daher an die Debatte um sexuellen Missbrauch, die vor etwa zehn Jahren ähnlich hohe Wellen schlug. Damals behaupteten Selbsthilfegruppen wie Wildwasser, jede vierte Frau sei als Kind missbraucht worden – eine Zahl, die dem eigenen Anliegen besondere Dringlichkeit verlieh und Fördergelder versprach, aber später offiziell zurückgenommen werden musste. Heute behauptet Necla Kelek, jede zweite türkische Frau in Deutschland sei unter Zwang verheiratet worden. Den Beweis bleibt sie zwar schuldig. Doch wer Zweifel anzumelden wagt, wird der Verharmlosung des Problems und damit der Mitschuld angeklagt.

Aktivistinnen wie Necla Kelek und Seyran Ates sind authentische Stimmen, weil sie in ihrer Jugend selbst familiären Druck und Gewalt erfahren haben. Wer ihre Bücher liest, erhält ein eindrückliches Bild ihrer persönlichen Leidenswege, und sicher sind die Übel, die sie anprangern, nicht nur Einzelfälle. Kelek & Co. wollen die deutsche Gesellschaft wach rütteln, und das ist ihr gutes Recht. Wenn ihr Einsatz dazu beiträgt, türkischen Frauen und Mädchen Mut zu machen und die Öffentlichkeit für deren Schwierigkeiten zu sensibilisieren, dann ist das eine gute Sache, denn Zwangsheiraten oder gar Ehrenmorde sind intolerabel.

Was nicht nur Migrationsforscher so stört, ist jedoch, dass sich Kelek und Ates zu Kronzeuginnen einer repressiven Ausländerpolitik machen lassen. Man kann das als Beleg dafür sehen, das eine autoritäre Erziehung nun mal keinen liberalen Geist gebiert. Statt mehr Frauenhäuser, mehr wissenschaftliche Untersuchungen oder publizistische Aufklärungskampagnen zu fordern, was weniger Aufmerksamkeit verspricht, reden Kelek & Co. einem autoritären Strafkatalog das Wort. Klar ist, dass ihr Furor gerade konservativen Politikern zugute kommt, die gern von ihren eigenen Integrationsversäumnissen ablenken.

Der Erfolg von Necla Kelek und Seyran Ates beruht darauf, dass sie ein klares Feindbild haben. Wenn vor allem die Migranten selbst und eine finstere Gutmenschenmafia aus Multikulti-Ideologen und Migrationsforschern für die Integrationsmisere verantwortlich sind, wie sie behaupten, dann trifft die deutsche Gesellschaft keine Schuld. Kelek und Ates bedienen damit die Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft, denn ihre Wut auf türkische Männer passt gut zur deutschen Angst vor allem Fremden. Und so sind die Gesetze des Medienmarkts: Wo eine Nachfrage besteht, da gibt es auch ein Angebot.