: Error Hauptschule
VON CHRISTIAN FÜLLER UND MARC BÖHMANN
„Das Elefant hat in seine Rüssel mehr als 300 Muskel“. Bülent stockt. „Ihr versteht doch, oder?“, fragt der 11-Jährige in seine Klasse hinein. Dreißig MitschülerInnen grinsen. Es ist eng in der 5 c der Marie-Curie-Hauptschule. Platz für Leseecken oder Experimentierplätze gibt es nicht. 18 Jungen und 13 Mädchen sitzen hier, 17 von ihnen mit Migrationshintergrund. Die halbe Welt ist vertreten: Pakistan, Russland, Türkei, Italien, Griechenland, USA, Portugal, Albanien. Alltag einer Hauptschule.
Bülent ist so etwas wie der verkörperte Durchschnitt der Klasse, seine Hauptschule eine ganz normale in Süddeutschland. Wie unter einer Lupe lassen sich hier die Effekte des deutschen Schulsystems betrachten. Ständig wurde Bülent, Simone, Pietro, Jessica, Kevin und Asli beigebracht, dass Lernschwächen nicht erwünscht sind. Jeder Rechenfehler, jeder Lapsus im Diktat brachte sie in der Grundschule näher an das, was „Bildungsempfehlung Hauptschule“ heißt. Kommenden Montag liegen die Ergebnisse der neuesten Studie „Program of International Students Assessment 2003“ vor, kurz Pisa 2003. Dann wird noch deutlicher, was Bülent und die anderen sind: Verlierer. Verlierer des internationalen Schulvergleichs, den die Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) nach 2000 nun zum zweiten Mal veröffentlicht. Verlierer auch des innerdeutschen Wettlaufs um Zukunft – denn für Bülent und seine Klassenkameraden wurde zwischen Pisa I und Pisa II nichts unternommen.
Nach Informationen der taz hat sich der Rückstand der Kellerkinder der deutschen Schule sogar weiter vergrößert. Die Lesefähigkeit der Schüler insgesamt verharrt bei Pisa 2003 auf niedrigem Niveau. In Mathematik, dem diesmaligen Schwerpunkt, geht es leicht aufwärts. Vorwiegend aber werden die Ergebnisse in den Gymnasien besser, ein wenig auch in Realschulen. Nur in den Hauptschulen lässt sich nichts mehr reißen. Dort wirken, so sagen es die Schulexperten, die Reformen nicht. Ihre schlechten Ausgangsbedingungen machen Hauptschulen quasi immun gegen Fortschritt.
Hartz und die Analphabeten
Die wichtigste Kennziffer von Pisa 2003 ist die der Risikoschüler. Das sind jene Kandidaten, die den Inhalt einfachster Texte nur mühsam wiedergeben können. Kein Land ist frei von dieser Risikogruppe – in Deutschland aber liegt ihr Wert erneut bei 22 Prozent. Beim letzten Mal waren es 23 Prozent. Mehr als die Hälfte der funktionalen Analphabeten besucht Hauptschulen, das Gros von ihnen hat Eltern, wie das heißt, niedriger sozialer Herkunft.
Die Eltern in Bülents Klasse sind Schichtarbeiter, Putzfrauen, sie bedienen noch spät abends in der Pizzeria, sie jobben im Fitnesstudio, in der Bäckerei oder fahren nachts Taxi. Peter Hartz würde sich freuen, welche Zumutungen die Leute auf sich nehmen. Einige Familien leben am Existenzminimum, sie stottern das Geld für die Klassenfahrt ab, warten beim Bezahlen eines Jugendbuches auf den nächsten Ersten. Fast die Hälfte der Kinder hat Eltern, die getrennt sind. Einige haben versucht, ihre Sprösslinge auf die Realschule zu hieven. Ergebnis der Zusatzprüfung: Ein Misserfolg mehr, für Eltern und Kind. Zeynep lächelt: „Ja, eigentlich wäre ich viel lieber nicht hier.“
Wenn dieses Wochenende vorüber ist, so steht zu befürchten, wird es aber wieder nicht um Bülent oder Zeynep gehen. Die Deutschen nämlich sind vernarrt in die Rangplätze von Pisa. Sie wollen ihre Dichternation wieder oben sehen. Jeder, der daran zweifelt, droht als Miesmacher hingestellt zu werden. Bislang galt das nur für die Politik, wo etwa die Kultusminister sich weigern, die Studie gemeinsam mit ihrem Grundsatzkritiker, dem Pisa-Chef der OECD, Andreas Schleicher, vorzustellen. Inzwischen trifft der Bannstrahl selbst die Presse. Ein Agenturjournalist, der vorab ein seriöses Pisa-2003-Brevier verfasste, musste sich in einer angesehenen Wochenzeitung vorwerfen lassen, er unterschlage gute Nachrichten. Die Pisa-Hysterie nimmt ehrverletzende Züge an.
Dabei sind sich die Bildungsforscher einig. Die politischen Reaktionen auf die erste Pisa-Studie im Jahr 2000, die berühmten sieben Handlungsfelder der Kultusministerkonferenz, waren durchaus bunt – nur haben sie ein systematisches Umsteuern des Tankers Schule nicht vermocht. Die 16 Bundesländer hatten damals die Ansprüche an Migrantenkinder erhöht, sie versprachen besseren Unterricht und sie kündigten an, dass sie die Lehrerausbildung verändern würden. Aber die Kernprobleme des deutschen Bildungssystems, die bei jeder internationalen Konferenz mit Kopfschütteln quittiert werden, haben sie zum Tabu erklärt – die Schulstruktur und die soziale Abhängigkeit von Bildungserfolgen.
Lernen in der toten Zone
Und so wird auch Pisa 2003 wieder zeigen, dass die Leistungen der guten und schlechten Schüler nirgends so weit auseinander klaffen wie in Deutschland; dass in keinem anderen Land mit der Geburt der Schulabschluss eines Kindes weitgehend festgelegt ist. Die deutsche Schule, so das unangenehme Fazit, enthält noch im 21. Jahrhundert Relikte der Chancenzuteilung ständischer Gesellschaften.
Als neuralgischer Punkt der Schule entpuppt sich dabei mehr und mehr die so genannte Sekundarstufe I, das sind die fünften bis zehnten Klassen. Es ist die tote Zone deutscher Schulen, die verlorene Phase des Lernens. Bildungsforscher sind immer wieder ratlos, wenn sie auf die Kompetenzfortschritte zwischen dem 11. und dem 15. Lebensjahr schauen – weil sie so kümmerlich sind. Erstmals hat darauf eine Untersuchung von Rainer Lehmann in Hamburg hingewiesen. Selbst in Gymnasien, so musste der Erziehungswissenschaftler feststellen, verlernen viele Schüler in den ersten Jahren mehr, als dass sie dazulernen.
Die genaue Ursache kennen die Forscher zwar noch nicht. Aber es gibt plausible Annahmen. Fünftklässler nämlich haben den schwersten Einschnitt ihrer Laufbahn gerade hinter sich – die Auslese auf die verschiedenen Schulformen am Ende der Grundschule. Sie kommen in völlig neu gemischte Lerngruppen, vor ihnen stehen verschiedene Lehrertypen mit jeweils anderen Ansprüchen. Und ganz nebenbei beginnt auch noch die Pubertät.
Anders als Polen, das nach Pisa 2000 alle Schüler in einer neuen gemeinsamen Sekundarstufe zusammenfasste und damit große Erfolge erzielte, ist ein so gezieltes Programm in Deutschland bislang nicht möglich. Denn die Sekundarstufe I ist die Phase, in der Schüler vermeintlich begabungsgerecht aufgeteilt werden.
Die politisch Verantwortlichen weigern sich freilich, diesen Kardinalfehler der deutschen Schule zur Kenntnis zu nehmen. Die Kultusminister verhalten sich wie die berühmten drei Affen, die nichts davon hören, sehen und dazu sagen wollen, dass Deutschland durch frühe Auslese massenhaft Talente mit zehn Jahren dazu verurteilt, in niederen Schulformen ihre Zeit zu vergeuden. Die Rolle der Lehrer, auch das wird immer klarer, ist in einem gegliederten System eine ganz andere als die Kinder zu fördern, ihre Schwächen zu beheben oder ihre besonderen Talente zu stärken. Im herrschenden Schulsystem sind Lehrer Liftboys: Sie bewerten Schüler, um sie hinauf- oder hinunterzufahren – meistens geht’s abwärts, wie Mobilitätsuntersuchungen zeigen.
Andere politische Eliten haben sich längst auf einen neuen Trip begeben. Nach den Wirtschaftsleuten des Handwerkskammertages in Baden-Württemberg ist Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) die erste maßgebliche Politikerin, die mit offenem Visier für eine Abschaffung der frühen Auslese kämpft. Sie will die dreigliedrige Schule zu einer Schule für alle zusammenführen – in einem sanften Übergang.
Eltern schauen nach Karlsruhe
Und der neue Vorsitzende des Bundeselternrates, Wilfried Steinert, hat gar verfassungsrechtliche Bedenken. Seit die Pisa-Forscher die negative Auslese gesondert untersucht und dabei herausgefunden haben, dass gerade kleine Hauptschulen auch gute Schüler um mehr als ein Lernjahr zurückwerfen, fühlt er sich zu einem beispiellosen Schritt ermuntert: Er will klagen – gegen die deutsche Schule. Die Bundeseltern erwägen, die Vereinbarkeit der Hauptschule mit dem Grundgesetz überprüfen zu lassen.
Auffällig in der 5 c der Marie-Curie-Hauptschule ist indes, dass viele Kinder sehr aufgeweckt, lernwillig und überhaupt nicht „schwierig“ sind. Sie lernen halt nur, vor allem in Deutsch und Mathe, nicht so schnell. Ihre Hypothek ist in vielen Fällen die Schriftferne des Elternhauses. Diese Schriftferne ist von der Schule kaum mehr aufzuholen, sagen viele, weil Schüler im deutschen System nicht früh genug die Chance bekommen, mit der notwendigen Unterstützung die deutsche Sprache zu erlernen.
Anderen Schulsystemen und Staaten gelingt das offenbar viel besser. Bei den erfolgreichen Pisa-Ländern übernimmt die Gesellschaft Verantwortung. Die Schulen müssen sich dort um sozial und ethnisch benachteiligte SchülerInnen kümmern – mit intensivem Sprachunterricht vor und während der Schulzeit. Pisa 2003 wird das am Montag erneut demonstrieren.