: Vorwärts zur 42-Stunden-Woche?
Immer mal wieder werden längere Arbeitszeiten als Zaubermittel gegen mattes Wirtschaftswachstum ins Spiel gebracht. Sinn macht das nicht – im Gegenteil
Angela Merkel, Edmund Stoiber Wolfgang Clement sind dafür. Auch in den Medien und an Stammtischen mehren sich die Stimmen, die eine Verlängerung der Arbeitszeiten fordern. Doch die Fakten werden dabei oft ausgeblendet.
Deutschland verfügt über ein Wohlstandsniveau, das es in unserer Geschichte noch nie gegeben hat. Mit immer weniger Arbeitskraft wird in immer kürzerer Zeit immer mehr hergestellt. Selbst beim diesjährigen Wachstum von „nur“ 0,5 Prozent toppen wir die Produktionsrekorde des Vorjahres.
Auch im internationalen Vergleich liegt die deutsche Wirtschaft vorn. Die Lohnstückkosten sind konkurrenzfähig und erlauben hohe Export- und Leistungsbilanzüberschüsse. Es bedarf also keiner Arbeitszeitverlängerung, um unser Wohlstandsniveau halten und die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig gestalten zu können. Strittig ist aber, wie die Arbeit und das Produkt der gemeinsamen Arbeit zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern, zwischen den Generationen und den Geschlechtern verteilt wird.
Weil wir immer effektiver arbeiten, werden immer weniger Arbeitskräfte benötigt. Um zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, müsste die deutsche Wirtschaft jährlich um mehr als zwei Prozent, um die Massenarbeitslosigkeit wirklich zu überwinden, über viele Jahre sogar um fünf plus x Prozent wachsen. Solch hohe Wachstumsraten waren in der Aufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg möglich – heute sind sie illusorisch.
Wir stehen also vor der Wahl zwischen hoher Arbeitslosigkeit und einer neuen Verteilung der vorhandenen Erwerbsarbeit. Wirtschaftlich klug handeln Gesellschaften, die die durchschnittlichen Arbeitszeiten an der Menge der verfügbaren Arbeitskräfte ausrichten. Bei hoher Arbeitslosigkeit ist daher eine Verlängerung von Arbeitszeiten abwegig. Denn Erwerbsarbeit würde bei immer weniger Menschen konzentriert. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie würde noch schwieriger. Berufseinsteigern und in den Beruf zurückkehrenden Müttern/Vätern würden die Beschäftigungschancen noch weiter verbaut.
Die Forderung nach Arbeitszeitverlängerung verstößt fundamental gegen das Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und auch gegen die Generationengerechtigkeit. Oder ist es gesellschaftlich vernünftig, durch die Abschaffung von Altersteilzeit den 60-jährigen Großvater zu zwingen, länger zu arbeiten, wenn gleichzeitig seine 40-jährige Tochter oder sein 20-jähriger Enkel arbeitslos sind?
Die Befürworter längerer Arbeitszeiten denken ökonomisch zu kurz. Sie wollen Löcher stopfen, reißen in Wirklichkeit aber neue auf. Denn wenn Arbeitszeiten verlängert werden, benötigen Unternehmen unter sonst gleichen Bedingungen weniger Personal. Die Folge sind Personalüberhänge und Personalabbau. Auch die Einstellung neuer Arbeitskräfte wird blockiert. Die Zahl der Beitragszahler in die sozialen Sicherungssysteme sinkt. Gleichzeitig steigen die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung. Hinzu kommt, dass überlange Arbeitszeiten auf Dauer krank machen und dann das Gesundheits- und Rentensystem zusätzlich belasten.
Gegen die von einigen Politikern ins Gespräch gebrachte Verlängerung der Arbeitszeit spricht zudem, dass auch Unternehmen von kürzeren Arbeitszeiten profitieren können. Statt mit wenig und deshalb häufig überfordertem Personal auskommen zu müssen, sind mit kürzer und flexibel arbeitenden MitarbeiterInnen bessere Ergebnisse zu erzielen. In Absatzflauten nutzen Unternehmen wie VW und nun auch Opel und die Telekom die tarifvertraglichen Möglichkeiten zur Arbeitszeitabsenkung. Seit 1994 hat bereits jedes fünfte Unternehmen der deutschen Metall- und Elektroindustrie den Tarifvertrag zur „beschäftigungssichernden Arbeitszeitabsenkung“ angewendet. Untersuchungen belegen, dass drei Viertel der Geschäftsleitungen ihre Erfahrungen mit kürzeren Arbeitszeiten positiv bewerten.
Arbeitszeitverlängerung dagegen vernichtet Flexibilität, da bei allzu niedrigen Personalzahlen Kapazitätsgrenzen schnell erreicht sind. Kürzere Arbeitszeiten dagegen schaffen Freiräume, in denen Unternehmen mit ihren Belegschaften besser „atmen“ und ihr personalpolitisches Puzzle präzise an sich ändernde Marktbedingungen anpassen können.
Ein Blick in andere EU-Länder zeigt zudem, dass niedrige Arbeitslosigkeit nicht das Ergebnis langer Arbeitszeiten ist. Empirisch scheint eher das Gegenteil richtig. Nach Berechnung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sind jene Länder beschäftigungspolitisch erfolgreich, in denen die Wochenarbeitszeit relativ kurz ist. Die tatsächliche Wochenarbeitszeit (einschließlich Teilzeit) beträgt in Dänemark 33,7 und in den Niederlanden sogar nur 29,5 Wochenstunden (EU-Durchschnitt: 35,5). Gleichzeitig ist die Arbeitslosenquote in diesen Ländern niedrig und liegt in Dänemark bei 4,7 Prozent, in den Niederlanden sogar nur bei 3,2 Prozent. In Deutschland wird hingegen mit 36,1 Wochenstunden überdurchschnittlich lang gearbeitet und gleichzeitig ist die Arbeitslosenquote bei uns mit 8,2 Prozent wesentlich höher als in Dänemark oder den Niederlanden.
Zeitpolitik definiert nicht nur den Rahmen für die Verteilung von Erwerbsarbeit, sondern auch von unbezahlter Arbeit für und mit Kindern (und Alten) und des Engagements für gesellschaftlich nützliche zivilgesellschaftliche Aufgaben. Im Land der Produktivitätsweltmeister wäre der Zwang zu einer generellen Verlängerung der Erwerbsarbeitszeit daher paradox. Denn es gibt zwei Währungen für Wohlstand: Geld und Zeit. Anstatt längere Arbeitszeiten für alle zu fordern, sollte die Vielfalt von Lebensinteressen stärker berücksichtigt werden. Es ist Aufgabe von Politik, Tarifparteien und Unternehmen, verbreitete Wünsche, je nach persönlichen Lebenszielen und abhängig von biografischen Phasen zeitweilig oder dauerhaft kürzer zu arbeiten, ernst zu nehmen.
Deshalb ist es falsch, kürzere Arbeitszeiten weiterhin finanz- und sozialpolitisch zu bestrafen – das Gegenteil tut Not. In diese Richtung weist etwa das von Schweizer Sozialdemokraten entwickelte Bonus-Malus-Modell zur Förderung kürzerer Arbeitszeiten – unter Rot-Grün ist es leider in Vergessenheit geraten. Nicht zuletzt: Eine Politik, die Kurs nimmt auf eine faire Verteilung von Arbeit und Einkommen, wirkt der sozialen Ausgrenzung und den sich epidemisch ausbreitenden Existenzängsten entgegen. Positive Zukunftserwartungen, materielle Sicherheit und vermehrter Zeitwohlstand sind wichtig, wenn die Lust wachsen soll, Kinder in die Welt zu setzen. Was wir also brauchen, ist „kürzere Vollzeit für alle“ und eine neue Kultur der Zufriedenheit. Was wir brauchen, ist eine intelligente, an den Bedürfnissen von Menschen ausgerichtete Arbeitszeitpolitik. Der Zwang zur Verlängerung der Erwerbsarbeitszeit gehört sicher nicht dazu. HELMUT SPITZLEY