von disco zu disco: Revolutioniert Final Scratch das Plattenauflegen?
DJ auf zwei Scheiben
Die beiden kanadischen DJs John Aquaviva und Richie Hawtin sind seit geraumer Zeit mit einem wahnsinnigen neuen Ding unterwegs. Es ist so sexy, dass allen DJs davon schwindlig wird. Es ist eine technische Innovation. Ihr Name ist Final Scratch, und der Witz daran ist, dass man anstatt Kisten, Taschen und eventuell auch noch Tüten voller schwer wiegender Platten nur noch ganze zwei Stück davon mitnehmen muss, eine pro Plattenspieler.
In diese beiden Platten sind keine Rillen mehr gefräst, sondern ein Timecode. Die Musik kommt in Wirklichkeit von der Festplatte des Laptops. Zwischen sie und den Plattenspieler ist ein Kästchen geschaltet, in das man während der Show die Songs zwischenlagert und sie dann von dort aus mit der Schallplatte ansteuert. Da wird das Vinyl zur Maus, mit der man angeblich auch umstandslos und vor allem gefühlsecht scratchen, rewinden, backspinnen und natürlich auch ganz normal pitchen kann. Als wäre die Musik tatsächlich auf der Scheibe.
Was bis jetzt nur wie ein selbstzweckhafter Gag klingt, hätte beachtliche Konsequenzen für reisende DJs wie mich: So hatte ich letztes Wochenende, an dem ich in Trossingen heftige House Music und in Konstanz eher Entspanntes auflegte, exakt 125 Platten dabei. Immerhin eine Kiste und eine dicke Tasche. Mindestens 35 Kilo Repertoire, die ich auf einer Sackkarre hinter mir her unentwegt auf Rolltreppen und in Aufzüge zog, so welche vorhanden waren unterwegs. Das ist meine übliche Ladung und ja, ich freue mich, ein Forum zu haben, um dieses Luxusproblem bejammern zu dürfen.
Mit Final Scratch aber, so stelle ich es mir jedenfalls vor, wäre ich pfeifend und meine zwei Platten lässig unter dem Arm über die Promenade in die Disco geschlendert, während auf dem federleichten Laptop im Rucksack ungefähr 3.000 Titel schlummerten, darauf wartend, per Schallplatte vom File zum Leben erweckt zu werden. Die 100 wichtigsten aktuellen Burner. Die 200 zeitlosesten Superburner. 300 minimalistische Klickerklacker-Tracks. 500 unausgegorene eigene Ideen, als MP 3s, zum Ausprobieren. House-Sets, HipHop-Sets, Retro-Sets, Techno-Sets, alles extrem übersichtlich einsortiert und kategorisiert. Alles, woran jemals Bedarf sein könnte, immer dabei. Und wenn sich der Techno-Rave, zu dem man gebucht wurde, als Reggae Dancehall erweist? Kein Problem: Im Ordner „Jamaica No Problem Man“ lagern 250 feinste Lieblings-Riddims, falls man mal in die Verlegenheit kommen sollte.
Ein unglaubliches Verhältnis zwischen Manövriermasse und Musikmenge, relativ zu Zugriffstempo und Bedienerfreundlichkeit. Und dennoch.
Das altmodische Horten und Herumtragen von großartigen, scheißschweren Schallplatten hat etwas Heiliges. Es gibt dem ganzen Gewerbe nicht nur diesen romantischen, handwerklichen Touch, es sorgt auch für eine gewisse Mitleid erregende Büßerkomponente. Gestern im Zug zum Beispiel wollte mir eine ältere Dame die Kiste beim Aussteigen nachreichen: Sie konnte nur den Griff hochklappen. Als ich sagte: „Das sind Schallplatten“, sagte sie: „Oh, Sie Armer.“ Mit Final Scratch wäre mir dieses wärmende Erlebnis wohl verwehrt geblieben.
Jedoch nicht nur die etwas protestantische Idee, dass man für das Privileg, DJ sein zu dürfen, irgendwie körperlich arbeiten muss, spricht für die Beibehaltung der Tradition des Kistenschleppens. Die Kiste an sich ist ja auch so etwas wie ein übergroßer und übergewichtiger Zettelkasten, ein sehr intuitives und individuelles Ablage- und Ordnungssystem, das aber nicht nur technisch-inhaltliche Informationen speichert, sondern auch eine abgegrabbelte und extremen Umgebungen ausgesetzte, dennoch kostbare Materie in relativ knapper Menge.
Im Disco-Zwielicht der DJ-Box finden rasche, komplexe Entscheidungsprozesse statt. Das eigenhändige Durchstöbern einer verwitterten Kiste auf der Suche nach dem lebenswichtigen nächsten Track, das wilde Wühlen, Zerren und Fummeln in und an Covern in all ihren Farben, Designs und Graden von Abgenutztheit erscheint mir nicht nur als der schönere darstellerische Akt im Vergleich zum Scrollen durch Listen, sondern auch als die effektivere Suchmaschine im sinnlichen, sündigen Rahmen einer Partynight.
HANS NIESWANDT
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