: Football’s Coming Home
Tipp-Kick, Tischfußball, Playstation – die Geschichte des Fußballs ist die seiner Simulation. Wird das echte Spiel auf Rasen überflüssig?
von MALTE OBERSCHELP
Was der Mensch liebt, das macht er nach. Der spanische Schriftsteller Javier Marías berichtet in seinem Buch „Alle unsere frühen Schlachten“, wie er in seiner Kindheit mit seinem Bruder ein Miniaturfußballspiel bastelte. „Wir kauften Stoffe in unterschiedlichen Farben und bemalten sie, soweit notwendig, mit den passenden Streifen. Aus dem Stoff schnitten wir kleine Vierecke aus und bezogen damit die Kronkorken.“
Und weiter: „Auf den Stoff klebten wir die Porträts der Spieler, die wir aus Sammelbildern ausgeschnitten hatten.“ Gespielt wurde auf dem Fußboden, zunächst mit einer Kichererbse, später mit einem Knopf. Beide Brüder schwärmten für Real Madrid, aber als Jüngerer musste Javier meist mit einem anderen Team vorlieb nehmen.
Heute bräuchte Marías, Jahrgang 1951, sich nur eine Playstation oder einen Gamecube zu kaufen und könnte alle europäischen Ligen im Wohnzimmer auflaufen lassen. Vermutlich gelten ihm digitale Fußballspiele auf dem TV-Schirm nur als Auswuchs der Kommerzialisierung. Dabei war, was Marías und sein Bruder einst mit Kronkorken und Sammelbildchen betrieben, nicht weniger virtuell als heute eine Partie auf der Konsole – und ein gutes Geschäft obendrein.
Von jeher wollten Kinder und Jugendliche am Wohnzimmertisch nachahmen, was ihre Idole im Stadion, in der Zeitung, im Radio oder im Fernsehen vollbracht hatten. Worauf clevere Erfinder und Unternehmer mit den entsprechenden Produkten reagierten.
Die Geschichte seiner Simulation ist fast so alt wie die des Fußballs selbst. Anfang der Zwanzigerjahre, die bis dahin recht bürgerliche Sportart erlebte in der Weimarer Republik durch das Interesse der Arbeiter gerade ihren Durchbruch zum Massenphänomen, machte sich ein Stuttgarter Apothekenmöbelfabrikant erstmals Gedanken, wie der Fußball nach Hause kommen könnte. Er bastelte zwei Blechfiguren, deren rechtes Bein auf Knopfdruck nach vorne schwang, stellte dazu kleine Tore auf und nahm als Ball einen schwarz-weiß gemusterten Würfel.
Der schwäbische Tüftler hieß Carl Mayer, seine Erfindung nannte er Tipp-Kick. Hätte Mayer geahnt, dass ihm mit dieser einfachen Kreation der Klassiker des Tischfußballs gelungen war, hätte er seine Tipp-Kick-Lizenz 1924 vermutlich nicht an den Schwenninger Kaufmann Edwin Mieg verkauft. Der erkannte das Potenzial der Fußballsimulation und machte sich flugs daran, was Mayer nur nebenberuflich betrieben hatte: die Vermarktung des Spiels.
Im Jahr darauf stellte Mieg Tipp-Kick, inzwischen mit Figuren aus Blei, auf der Leipziger Spielwarenmesse vor. Der Ball war jetzt nicht mehr mit sechs Seiten, sondern mit zwölf Seiten würfelig „rund“ – ein Dodekaeder. Die Verkaufszahlen entwickelten sich so rasant wie die Zuschauermengen in den Stadien. In den Dreißigerjahren gründeten sich gar Tischfußballvereine: die TFG 38 aus Hildesheim etwa, die noch heute in der Tipp-Kick-Bundesliga spielt. Als Edwin Mieg 1949 starb, übernahmen seine Söhne ein florierendes Unternehmen; allein 1954 wollten 180.000 Kunden das Wunder von Bern nachspielen.
Taktisch blieb Tipp-Kick den Traditionen der fußballerischen Frühzeit verhaftet. Man spielte Mann gegen Mann, Einzelaktionen waren wichtiger als das Mannschaftsspiel. „Tipp-Kick ist wie Mario-Basler-Fußball: das Bein erst bewegen, wenn der Ball direkt davor liegt“, lästerte Harald Schmidt. Dazu symbolisierte das Spielgerät, dessen zwei Farben den jeweiligen Ballbesitz anzeigten, die Idee des Kick & Rush: den Ball weit nach vorne schlagen und hoffen, dass er beim eigenen Mitspieler landet.
Der Komplexität des echten Fußballs kam eine Spielart des Tischfußballs näher, die in den Fünfzigerjahren populär wurde: der Kicker. Um Fans anzulocken, begannen Gastwirte damit, neben Fernsehern für Liveübertragungen auch Tischfußballspiele in ihren Kneipen aufzustellen. Der französische Erfinder Lucien Rosengart (1880–1976), der in der Automobilfabrik Citroën arbeitete und auf dessen Konto unter anderem Patente für den Sicherheitsgurt und den Vorderradantrieb gehen, soll bei der Entwicklung des Kickertischs seine Hände im Spiel gehabt haben.
Für den Namen, der bis heute synonym mit Tischfußball ist, sorgte die Firma Kicker aus Genf. Ein Monopol wie beim Tipp-Kick ist daraus nicht entstanden. Hersteller wie Löwen, Förster oder Leonhart konkurrieren noch heute miteinander und veranstalten Turnierserien, über deren technische Fürs und Widers bei den Spielern mit ähnlich missionarischem Eifer gestritten wird wie über Apple- oder PC-Standards bei den Computerfreaks.
Das 2-5-3-System der meisten Kickertische spiegelte wider, was Mitte des vergangenen Jahrhunderts fußballtaktisch das Maß aller Dinge war. 1934 und 1938 war Italien in dieser Formation Weltmeister geworden, als Trainer Vittorio Pozzo das 2-3-5-System defensiver interpretierte, indem sich zwei der fünf Stürmer ins Mittelfeld zurückfallen ließen. Auch Brasilien spielte beim Titelgewinn 1958 mit einem ähnlichen System, bevor der Trend abermals in Richtung Defensive ging und sich das englische 4-4-2 oder das kontinentale 3-5-2 mit nur zwei Stürmern einbürgerte.
Kicker war allein deshalb realitätsnäher als Tipp-Kick, weil pro Mannschaft zwei Spieler aktiv sind. Geübte Spieler passen sich gegenseitig die Bälle zu, das Teamwork tritt neben die individuellen Stärken als spielentscheidender Faktor hinzu. Wer nur auf Spezialistentum setzt und einen Trick perfektioniert, bekommt Probleme. Wie um das zu verdeutlichen, gibt es den Kickertisch auf Jahrmärkten und Betriebsfesten mittlerweile auch als überlebensgroßes Human Table Soccer: Dort hängen Menschen aus Fleisch und Blut an den Stangen, genau wie die Fläschchen in der Kümmerling-Werbung.
Jedoch war das Spiel am Kneipentisch viel schneller. Im Film „Absolute Giganten“ (1999) hat Kameramann Frank Griebe („Lola rennt“) gezeigt, wie spektakulär eine Tischpartie inszeniert werden kann: Mit Superzeitlupen, Minikameras und rasanten Schnitten gewinnen die Figuren ein Eigenleben wie auf dem Rasen. Nebenbei verdichtete die Partie die Bildsprachen von „Sportschau“, „ran“ und Premiere – und machte deutlich, dass Fußball heute primär TV-Fußball, also ein Stück weit selber Simulation geworden ist.
Logische Folge war ein Fußballspiel als reines Bildschirmereignis. In den Neunzigerjahren eroberten die Computer- und Konsolenspiele den Markt. Allein Sony hat von seiner Playstation seit 1995 über 5,5 Millionen Exemplare verkauft, und bei der Software zählen neben Ego-Shootern Fußballspiele wie „Fifa 2002“ oder „This is Football“ zu den Rennern. Erst hier ist der Fußball verwirklicht, den in den Siebzigerjahren die niederländische Nationalmannschaft im Anschluss an die starre Raumaufteilung der klassischen Moderne (sowie des Kickers) erfand: Verteidiger stürmen, Stürmer arbeiten über den Platz, alle müssen alles können.
Diese Simulationen erreichen eine neue Stufe der Realitätsnähe und statten den Spieler mit den Kompetenzen eines Trainers aus. Die Kader der Teams sind mit den echten Mannschaften identisch, von Jahr zu Jahr werden selbst die Gesichter der Spieler ihren Vorbildern immer ähnlicher. Die Bewegungsabläufe werden von den Stars aus Fleisch und Blut minutiös abfotografiert und dann von Dutzenden Programmierern grafisch umgesetzt, es kommentieren die aus dem Fernsehen bekannten Stimmen.
Als Spieler kann man aus einer Fülle von individuellen und mannschaftstaktischen Möglichkeiten schöpfen. Auswechslungen, Übersteiger, Abseitsfalle, Fallrückzieher oder taktisches Foul? Kein Problem – solange man die entsprechende Tastenkombination am Joystick flink genug parat hat.
In ihrer Verschränkung von Kommerzialisierung und Popappeal bilden solche Simulationen die zeitgemäße Entsprechung zu einem Spiel, das sein Selbstverständnis als authentischer Volkssport längst hinter sich gelassen hat. Der Fußball und sein digitales Abbild sind eine Symbiose eingegangen, in der die Grenzen verschwimmen. Sony wirbt für seine Playstation als einer der Hauptsponsoren der Champions League, der Hersteller Sega ist mit seinem Konkurrenzmodell Dreamcast auf den Trikots des englischen Meisters Arsenal London präsent. Im Gegenzug wurden in einigen Computerspielen bereits die virtuellen Werbeflächen an den Stadionbanden vermarktet.
Der Kontakt zu den Akteuren ist bei den Fußballsimulationen immer mittelbarer geworden – genau wie sich viele Fans heute von ihren leibhaftigen Helden entfremdet fühlen. Beim Tipp-Kick konnte man die Spieler anfassen und sie beim Kicker immerhin noch an mechanischen Stangen dirigieren, bevor die Konsole mit der Verkabelung von Mensch und Maschine aufwartete. Aber dafür ist das Spiel komplexer, besser und glamouröser geworden; im Stadion und zu Hause.
„Baudrillard wollte den Fans zeigen, was Fußball wirklich ist. Doch er scheiterte an der Frage, was ‚realer‘ ist: das Wembleystadion oder das Tipp-Kick auf dem häuslichen Esszimmertisch“, hat Mark Perryman im Buch „1. FC Philosophie“ geschrieben, das elf berühmte Denker zu einer Mannschaft zusammenstellt. Das ist der eine Aspekt in der Geschichte des Fußballs und seiner Simulationen. Der andere steckt in einem Zitat des Poptheoretikers und ehemaligen Sex-Pistols-Managers Malcolm McLaren. „Rock ’n’ Roll spielen – das kann jeder. Aber keiner von uns kann neunzig Minuten das Spielfeld rauf und runter laufen und Tore schießen“, so hat er begründet, warum der Fußball seine Faszination nie verlieren wird.
MALTE OBERSCHELP, Jahrgang 1968, freier Journalist in Freiburg, kann sich bei „Fifa 2002“ nie merken, wie der Übersteiger geht
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