Özdemir über Kreuzberger Flüchtlinge: „Das kapieren nicht alle“
Der Grünen-Vorsitzende über bayerische Verhältnisse in Kreuzberg, die Forderung nach Bleiberecht und Kapuzenträger in seinem Kiez.
sonntaz: Herr Özdemir, mit Kreuzberg ist die Illusion verbunden, dass andere Dinge möglich sind als anderswo. Und weil die Grünen regieren: Dass es mit Flüchtlingen anders läuft als etwa in Bayern. In dieser Woche umzingelten hunderte Polizisten eine Schule, auf deren Dach Flüchtlinge drohten, bei einer Räumung zu springen. Das wirkt fast bayerisch.
Cem Özdemir: Wenn Grüne regieren, gibt es immer die Erwartung, dass sie alle Probleme dieser Welt lösen. Daran sind wir auch selbst nicht ganz unschuldig. Aber: Wir haben 50 Millionen Flüchtlinge weltweit, Europa macht die Schotten dicht, das deutsche Asylrecht wird immer weiter ausgehöhlt.
Das heißt?
Das wird der Bezirk Kreuzberg alleine nicht gestemmt bekommen. Da stehen das Land und der Bund als Gesetzgeber in der Verantwortung. Wie geht man um mit dem Bleiberecht, dem Asylbewerberleistungsgesetz, mit der Residenzpflicht, der angemessenen Unterbringung? Nur ein Bruchteil davon fällt in die Zuständigkeit der Bezirksbürgermeisterin und des Baustadtrats. Das kapieren nicht alle, die sich mit den Flüchtlingen solidarisieren, und der eine oder andere will es wohl auch gar nicht. Vielleicht auch, weil einige Spaß daran haben, die Grünen vorzuführen.
Die Kreuzberger Grünen haben recht hohe Erwartungen geweckt.
Wir tun alles, was wir können, aber wir sind nicht allein auf der Welt, und wir sind auch nicht allein in Kreuzberg. Da stoßen wir an Grenzen, und müssen da auch ehrlich mit uns selbst sein. Sicherlich müssen wir das als Grüne aufarbeiten. Wo ist der Eindruck entstanden, dass man Dinge verspricht, die man nicht halten kann? Selbst wenn wir in Kreuzberg die absolute Mehrheit hätten, wenn wir in Berlin regieren sollten und 2017 im Bund, sage ich schon mal vorsorglich, werden wir auch nicht das Paradies auf Erden ausrufen können.
Es gab trotzdem die Hoffnung, dass man das in Kreuzberg anders lösen kann. War das naiv?
Als Baden-Württemberger Realo bin ich nicht im Verdacht mit den Kreuzberger Grünen immer einer Meinung zu sein. Aber zur Ehrenrettung der Kreuzberger muss ich mal sagen: Man kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie nicht mit Engelsgeduld versucht hätten, eine solidarische und menschliche Lösung zu finden. Man hat ja nicht nur eine Verantwortung für die Flüchtlinge, sondern auch für die Anwohner. Für den Gesamtbezirk. Das blenden einige aus der selbsternannten Soli-Szene komplett aus.
ist seit 2008 Parteivorsitzender der Grünen – seit dem Herbst 2013 gemeinsam mit Simone Peter. Seitdem sitzt er auch wieder im deutschen Bundestag. Özdemir stammt aus Reutlingen und lebt in Berlin-Kreuzberg. In Stuttgart bewarb er sich bei der Bundestagswahl vergeblich um ein Direktmandat.
Welche Verantwortung meinen Sie?
Der politische Protest ist wichtig und braucht seinen Raum. Die Gefahr ist aber da, dass das Signal gesetzt wird, wenn du Dächer besetzt und mit Selbstmord drohst, dann erreichst du mehr. Das kann nicht die Botschaft sein. Zumal für eine Partei, die ja immer noch ihre Wurzeln auf gewaltfreie Konfliktlösung zurückführt. Erpressung, Einsatz von Gewalt sind inakzeptabel. Es gibt ein staatliches Gewaltmonopol, das kann nicht durch Kapuzenträger ersetzt werden.
Was passiert, wenn die Flüchtlinge aus dem Fernsehen plötzlich am eigenen Gartentor sitzen? Die Geschichte einer besonderen Nachbarschaft in Berlin-Kreuzberg, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 5./6. Juli 2014. Außerdem: Nach dem Psychiatrie-Skandal steht Gustl Mollath wieder vor Gericht. Angeklagt sind diesmal die anderen. Und: Was genau machen diese Winke-Katzen in den Schaufenstern? Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Ihre Co-Vorsitzende hat gerade ein Bleiberecht für die Flüchtlinge in der Schule in der Ohlauer Straße in Kreuzberg gefordert. Widerspricht sich das nicht?
Es wäre ungerecht und das falsche Signal, jetzt eine Gruppe aufgrund der aktuellen Situation besonders zu behandeln. Realistisch und notwendig ist, dass jeder Einzelfall geprüft wird. Und dass man mit den Bundesländern, aus denen die Flüchtlinge kommen, versucht, Lösungen zu finden. Die wenigsten sind ja aus Berlin. Da ist Innensenator Henkel gefragt. Er trägt dafür die Verantwortung. Ich habe große Sympathien für die Forderung nach einem Bleiberecht. Ich wage nur zu sagen, dass ich nicht sehe, dass Berlins Innensenator Henkel und der Bundesinnenminister sie in absehbarer Zeit erfüllen wird.
Sie können das gut verstehen?
Ich kann verstehen, dass das schwierig ist. Niemand hat ein Interesse daran, dass sofort jedes Asylbewerberheim besetzt wird. Aber sich zurückzulehnen und die Verantwortung in den Bezirk abzuschieben, ist keine Lösung. Man muss sich überlegen: Sind wir der Meinung, wie Navid Kermani gesagt hat, dass unser Artikel 16 zum Asylrecht ein hohes Gut ist und dass es eine Schande war, dass ihn der Bundestag 1993 halb zum Steinbruch gemacht hat. Da sage ich Ja! Deshalb müssen wir die individuelle Prüfung von Asylanträgen verteidigen und legale Zugangswege für Flüchtlinge schaffen.
Sie wohnen in Kreuzberg am Kottbusser Tor, nicht weit von der Ohlauer Straße. Haben Sie von den Geschehnissen in der Schule etwas mitbekommen?
Natürlich bekommt man das mit, wenn man im Bezirk wohnt. Wir waren durchweg im Gespräch mit unseren Leuten aus dem Bezirk, Landesvorstand, Abgeordnetenhaus und Bundestagsfraktion. Sie haben pausenlos verhandelt. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Versetzen sie sich mal in die Lage des Baustadtrats Panhoff: Die Polizei sagt, sie zieht ab und es ist völlig klar: Es kann keine Lösung geben, wenn noch mehr Leute ins Haus kommen und es wieder besetzen.
Die Grünen haben also alles richtig gemacht?
Nein, aber was wäre richtig? Einfach gemacht hat es sich dort niemand. Ist es notwendig, dass die Polizei aus allen Teilen Deutschlands kommt wie früher am 1. Mai? Meines Erachtens nein. Ist es notwendig, dass man den ganzen Kiez lahmlegt? Meines Erachtens nein. Ist es aber notwendig, dass die Polizei den Eingang zur Schule sichert? Eindeutig ja. Sonst würde das passieren, was auch schon am Oranienplatz passiert ist. Dass leider ein Teil der Verhandlungspartner nicht absprachetreu ist. Das blendet die Unterstützerszene geflissentlich aus. Die Polizei gehört zu einer Demokratie dazu. Die muss an der Schule dafür sorgen, dass kein rechtsfreier Raum entsteht.
Manche Soziologen würden sagen: Es wird zwar viel von Toleranz geredet, in Kreuzberg etwa, darunter schwelen aber trotzdem Ressentiments.
Es gibt schon ein hohes Maß an Sensibilisierung in Kreuzberg. Trotz aller Solidarität ist für die Anwohner die Situation eine riesige Herausforderung. Auch Berlin kann nicht mit einem Fingerschnips Massenunterkünfte für tausende Flüchtlinge zur Verfügung stellen und die Verantwortung anderer Bundesländer mit übernehmen. Darüber müssen wir offen reden.
Wie denn?
Man darf nicht vergessen, dass alles, was wir tun, im Gegensatz zu dem, was andere Länder tun, auf Schwäbisch würde man sagen ‚a Nasenwässerle‘ ist. Ein Rinnsal. In der Türkei, in Jordanien oder im Libanon gibt es Millionen Flüchtlinge. Diesen Ländern muss man ein riesiges Kompliment machen. Ich wüsste nicht, welche Debatten das bei uns auslösen würde. Bei uns hätte man wahrscheinlich das Gefühl, die Demokratie käme ins Wanken.
Akzeptieren die Kreuzberger die Polizei heute mehr als noch vor 20, 30 Jahren?
Die Demonstranten der 70er-Jahre hatten andere Anliegen, und die Polizei ist anders vorgegangen. Die Veränderung macht auch vor Kreuzberg nicht halt. Im Guten wie im Schlechten. Beim dem ein oder anderen Jugendlichen, auch aus der Unterstützerszene der Flüchtlinge, habe ich das Gefühl, die haben ein bisschen zu viel „Durchs wilde Kurdistan“ von Karl May gelesen und kamen zu spät für eine Weltrevolution. Manche Schlachten sind halt einfach schon von Älteren geschlagen. Aber diese jungen Leute suchen sich jetzt trotzdem ein Betätigunsgsfeld. Dafür sollte man die Flüchtlinge nicht missbrauchen. Dazu ist die Sache zu ernst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“