Streik für Flüchtlinge: Tausende fliehen vor der Schule
Knapp 2.000 SchülerInnen und Studierende demonstrieren für die Rechte von Flüchtlingen. Die zeigen sich zufrieden - und gerührt von so viel Solidarität.
Wenn das der alte Kaiser Wilhelm wüsste: Die aufmüpfige Jugend hat „seinen“ Neptunbrunnen in Beschlag genommen. Ein junger Mann sitzt auf dem Kopf des Meeresgottes und schwenkt eine „Kein Mensch ist illegal“-Fahne. Andere stehen am leeren Beckenrand und skandieren „Schulter an Schulter gegen den Rassismus“. Es ist noch keine zehn Uhr am Donnerstagmorgen, doch der Platz vor dem Roten Rathaus wird minütlich voller. Knapp 2.000 SchülerInnen und Studierende folgen am Ende dem Aufruf zum „Refugeeschulstreik 2014“.
Komitees an Schulen und Universitäten haben die Aktion aus Solidarität mit den Flüchtlingen vom Oranienplatz und der besetzten ehemaligen Schule in Kreuzberg organisiert. Vorbild war der Hamburger Schulstreik für die Lampedusa-Flüchtlinge im Dezember, erklärt Georg Ismael von der mitorganisierenden kommunistischen Jugendorganisation „Revolution“. Für den 22-jährigen Studenten ist klar: „Rassismus und Abschiebung betrifft die Schüler ganz konkret selbst.“
An der Weddinger Ernst-Reuter-Oberschule ist das in der Tat so. „Wir haben rund 93 Prozent Migrantenanteil“, erklärt Karun Sakhiravi, einer von vier Schülersprechern. Voriges Jahr hätten sie zwei Abschiebefälle gehabt, „gerade ist wieder ein Mitschüler davon bedroht“. Darum sei die Zustimmung zum Streik bei ihnen enorm hoch. Von rund 1.000 Schülern seien bestimmt 200 zur Demo gekommen, „und viele bleiben zu Hause aus Solidarität mit uns.“ Auch von den Lehrern hätten sie breite Unterstützung erfahren. Ein paar Meter weiter steht der 17-jährige Ibrahim und gibt mit seinem Megafon die Slogans vor. Er ist ebenfalls Schulsprecher an der Ernst-Reuter und sagt: „Meine Eltern waren selbst Flüchtlinge, aus Palästina. Daher kann ich gut nachfühlen, wie sich Flüchtlinge heute fühlen müssen.“
Durch das Meer der Fahnen und Transparente, die „O-Platz bleibt, Henkel geht“ oder „Refugees welcome“ fordern, streift auch der 14-jährige Joshua von der Mendelssohn-Bartoldy-Schule in Prenzlauer Berg. Zehn Pappschilder mit dem Aufdruck „Bleiberecht für alle“ hat Joshua bedruckt. Nun versucht er, sie an seine Mitschüler zu verteilen. „Die Angst vor zu vielen Flüchtlingen ist unbegründet. Viele würden hier Arbeit suchen und produktive Gesellschaftsmitglieder werden“, erklärt er – und muss selbst über seine gestelzte Ausdrucksweise lachen.
Gegen halb elf – ein weiterer Demozug ist eben eingetroffen – begrüßt ein Redner mit rotem Palituch die Demonstranten. Begeisterung kommt auf, als er sich vom Lautsprecherwagen herab bedankt, dass „so viele Schüler und Studierende zeigen, dass Berlin solidarisch ist mit den Flüchtlingen“. Und wie alte Demohasen skandieren die Jugendlichen ein kräftiges „Hoch-die-internationale-Solidarität“.
Die anschließenden Redebeiträge hören sich auch Sibtain Naqvi und seine vier Begleiter an. Die Flüchtlinge gehören zu den Hungerstreikern vom Brandenburger Tor, die zur Zeit von einer kirchlichen Organisation betreut werden und auf die Ergebnisse ihrer Einzelfallprüfungen warten. „Diese Demo hier ist das Ergebnis unserer Aktionen, die das Bewusstsein der Leute geschärft haben“, gibt sich Naqvi selbstbewusst.
Alles andere als das ist Maiga aus Mali. Ungläubig betrachtet er die Menschenmenge, die eine Stunde später den Oranienplatz füllt. „Ich bin überrascht, dass so viele Leute gekommen sind. Das macht mich sehr glücklich“, sagt der 37-Jährige, der seit über einem Jahr in dem Flüchtlingscamp lebt. Stockend erzählt er, wie sehr er unter der rechtlosen Situation leide. „Ich wusste nicht, dass man Flüchtlinge in Europa so behandelt. Sonst wäre ich nicht gekommen.“
Unter den Teilnehmern der Demo ist die Stimmung weniger gedrückt. Zwar haben die Organisatoren im Verlauf des Zugs nach Kreuzberg wiederholt über Aggressivität seitens der Polizei geklagt – und tatsächlich gab es laut deren Sprecher „vereinzelte Festnahmen und Identitätsfeststellungen“. Doch gegen Mittag ist die Demo „friedlich, aber kämpferisch“, wie ein Redner gefordert hat, an ihr Ende gekommen. Aus dem Boxen tönt eine Balkanbeat-Version von „Bella Ciao“. Es wird getanzt. Manche Dinge ändern sich eben nur in Nuancen.
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