Spekulation mit Kreditderivaten: Der Kontrollverlust der BVG
Mit einer Finanzwette haben die Berliner Verkehrsbetriebe 150 Millionen verloren. Chef-Aufseher Sarrazin passte nicht genug auf, wie interne Dokumente zeigen.
BERLIN taz | Die Berliner Verkehrsbetriebe haben mit ihren 13.000 Mitarbeitern eigentlich ein ziemlich bodenständiges Geschäftsmodell: Fahrgäste transportieren. Mit ihren rund 3.000 U-Bahnen, Bussen und Straßenbahnen legen sie jeden Tag eine Strecke zurück, die zum Mond und wieder zurück reicht.
Im Jahr 2007 hatten die Verkehrsbetriebe allerdings eine abgehobene Idee: Die landeseigene Einrichtung sollte an den Finanzmärkten mitspekulieren und damit im besten Fall einen Gewinn von 7,8 Millionen Dollar machen. Es trat dann aber der schlechteste Fall ein: Ein Verlust von 204 Millionen Dollar.
In London hat in der vergangenen Woche der Prozess begonnen, mit dem die Verkehrsbetriebe BVG die Zahlung doch noch abwenden wollen. Der taz liegen die Schriftsätze der Verkehrsbetriebe und von JPMorgan an das Gericht vor. Die Verkehrsbetriebe argumentieren: Das Geschäft sei von Anfang an nichtig gewesen, weil es „vollkommen unangemessen für eine staatliche Transportgesellschaft“ sei. Weiter heißt es: „Die Berliner Verkehrsbetriebe waren als Anstalt des öffentlichen Rechts durch Gesetz und Satzung begrenzt auf Geschäfte innerhalb dieser vorgegebenen Funktion, wozu – nicht überraschend – nicht der Verkauf von Kreditsicherheiten gehörte.“
In ungewöhnlicher Offenheit gibt das landeseigene Unternehmen zu: „Die BVG hat wesentliche Aspekte der Transaktion nicht verstanden.“ Das gilt insbesondere für den Mitarbeiter, der bei der BVG für das Geschäft zuständig war und sich in seiner E-Mail-Signatur „Experte für Finanzprodukte“ nannte. Die Verkehrsbetriebe schreiben: „Der Ansprechpartner auf Seite der BVG hatte das Verlustprofil der Transaktion grundlegend missverstanden, nämlich unter welchen Umständen die Verkehrsbetriebe wie viel zahlen müssen."
Nur eine profane Wette
Was die Verkehrsbetriebe immerhin richtig verstanden hatte: Dass es bei dem Geschäft eigentlich um nicht mehr als eine profane Wette geht, auch wenn sie den umständlichen Namen „Synthetic Collateralized Debt Obligation“ (CDO) trägt. Eine Wette mit der Investmentbank JPMorgan. Gewettet wurde darum, ob 150 andere Unternehmen in den nächsten Jahren in Zahlungsschwierigkeiten kommen. Zu diesen Unternehmen gehörten etwa Lehman Brothers, die isländische Kaupthing Bank, die Immobilienfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac und der Versicherungskonzern AIG. Wenn es eine Pleitewelle gibt, würde JPMorgan gewinnen. Sonst die Verkehrsbetriebe.
Was der Finanzexperte der Verkehrsbetriebe falsch verstanden hatte: Wie viele der 150 Unternehmen pleitegehen müssen, damit sie den vollen Betrag zahlen müssen. Er dachte: Alle 150. Tatsächlich reichten schon weniger als zehn Unternehmen.
Als letzte Kontrollinstanz hatte der Aufsichtsrat der Verkehrsbetriebe über das Geschäft zu entscheiden. Und der Vorsitzende dieses Gremiums war Thilo Sarrazin, damals Berliner Finanzsenator, später Bundesbankvorstand, heute Buchautor und niemals verlegen um Spartipps für Hartz-IV-Empfänger. Die Investmentbanker machten sich intern Sorgen, dass Sarrazin den Deal noch stoppen könnte. Das zeigen Mitschnitte interner Telefonate.
Die Besonderheit bei Gerichtsverfahren in Großbritannien ist, dass das Gericht dort die beteiligten Firmen anweisen kann, alle internen Unterlagen zu dem Sachverhalt rauszurücken. Allein JPMorgan hat mehr als 14.000 Briefe, E-Mails oder Telefonmitschnitte zugänglich gemacht – und zwar sowohl für das Gericht als auch für die Gegenseite.
Und so ist jetzt nachzulesen, wie zwei Investmentbanker von JPMorgan am Telefon über Sarrazin unterhielten: "Der ist ein Erbsenzähler und ich würde sagen, wenn der damit zu tun bekommt, könnte er argwöhnisch werden, weil er sagt, dass eine Investmentbank wohl eine Menge Geld damit verdient."
Die Sorge war unbegründet. Es existiert ein Audio-Mitschnitt der Aufsichtsratssitzung der Verkehrsbetriebe vom 25. April 2007. Der Deal wird nur vier Minuten lang besprochen. Niemand stellt die Frage, ob es eigentlich die Aufgabe der Verkehrsbetriebe sei, Finanzwetten abzuschließen. Wie JPMorgan in dem Schriftsatz an das Gericht ausführt, gibt Thilo Sarrazin stattdessen zu erkennen, dass auch er die Transaktion nicht versteht. Dann stimmt der Aufsichtsrat zu. Am 19. Juli 2007 schlossen die Verkehrsbetriebe den Vertrag. Die Wette sollte über zehn Jahre laufen. Nach einem Jahr und drei Monaten hatten die Verkehrsbetriebe verloren.
Ahnungslosigkeit
Die BVG argumentiert jetzt vor Gericht: JPMorgan musste wissen, dass die BVG den Deal nicht verstanden hat. Als Beweis wird dafür etwa der Mitschnitt von Telefonaten zwischen dem BVG-Finanzexperten und Mitarbeitern von JPMorgan angeführt. Bei einem dieser Gespräche versuchte der BVG-Mitarbeiter vorzurechnen, wie er das verstanden hatte. „Das ist keine Berechnung, die jemand gemacht hätte, der ein Basis-Verständnis der Funktionen der geplanten CDO hat“, schreiben die Verkehrsbetriebe jetzt in ihrem Schriftsatz an das Gericht.
Am deutlichsten äußerte der BVG-Finanzexperte seine eigene Ahnungslosigkeit in einem Telefonat mit einem der Investmentbanker von JPMorgan: „Der Vertrag, mit allen Definitionen, hat 500 Seiten Papier oder so, mit zig Querverweisen, wie das so üblich ist bei US-Verträgen, und wir sind keine Experten auf diesem Feld und verstehen nicht, was genau wir unterschreiben.“* Das sagte er wohlgemerkt, nachdem er den Vertrag abgeschlossen hatte.
Die Verkehrsbetriebe //www.documentcloud.org/documents/1008847-bvg-opening-submissions-pdf.html#document/p83/a141831:merken in dem Schriftsatz an, dass auch der damalige Aufsichtsrat "kein besseres oder anderes Wissen oder Verständnis hatte zu dieser Transaktion" als der BVG-Finanzexperte.
In dem Gerichtsverfahren erheben die Verkehrsbetriebe den Vorwurf gegen JPMorgan, die Pflicht zur umfassenden Beratung verletzt zu haben. Die Bank dagegen „weist es zurück, dass JPMorgan gegenüber der BVG irgendeine relevante Fürsorgepflicht hatte“.
Der Prozess ist auf 40 Verhandlungstage angesetzt. Wenn die Verkehrsbetriebe verlieren, haftet das Land Berlin für die Verluste. Dann müsste am Ende wohl der Landeshaushalt einspringen. Alternativ könnten auch die Fahrpreise steigen. Ein Urteil wird im Sommer oder Frühherbst dieses Jahres erwartet.
Keine Stellungnahme
Die taz hat die Verkehrsbetriebe um eine Stellungnahme gebeten. Unternehmenssprecherin Petra Reetz antwortete, sie wolle sich wegen des laufenden Prozesses in London nicht zu dem Thema äußern.
Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin sagte über das Geschäft im Jahr 2008 – nachdem die Wette verloren war, aber noch bevor er in den Vorstand der Bundesbank wechselte – dass „niemand sich darüber mehr ärgert als ich“. Er rechtfertigte die damalige Entscheidung damit, man habe im Jahr 2007 nicht ahnen können, dass kurz darauf eine Finanzkrise ausbricht: „Dass sich aus heutiger Sicht die Dinge anders darstellen, ist absolut klar.“
Der BVG-Finanzexperte arbeitet inzwischen als Geschäftsführer des Berliner Büros einer privaten Finanz-Beratungsgesellschaft, deren Kunden hauptsächlich Kommunen und öffentliche Einrichtungen sind. Das Unternehmen wirbt auf seiner Webseite damit, es unterstütze seine Klienten mit „unabhängiger und umfassender Beratung bei allen strukturierten Finanztransaktionen der öffentlichen Hand. Die Kunden profitieren von dem hochgradig spezialisierten Know-how unserer Mitarbeiter“.
Auf seiner Profilseite steht über seine Vergangenheit: Er leitete „bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) das Sachgebiet Sonderfinanzierung, wo er unter anderem für den Abschluss und das Vertragsmanagement strukturierter Finanzierungen zuständig war“. Dort habe er auch “seine exzellenten Kontakte zu Banken, insbesondere Förder- und Investitionsbanken auf- und ausgebaut“.
Die Beratungsgesellschaft des BVG-Finanzexperten nennt als Kundenreferenzen auf ihrer Webseite etwa die Kommunen Nürnberg, Gelsenkirchen, Leipzig, Konstanz oder Recklinghausen, die Kölnmesse, die Schweriner Abwasserentsorgung - und die Berliner Verkehrsbetriebe.
Siehe auch
Wie die Verkehrsbetriebe sich bei dem Deal von einer Kanzlei beraten ließen, die in Wirklichkeit für die Gegenseite gearbeitet hat
Kommentar: Der Betrug am dummen Deutschen
* Das Zitat ist eine doppelte Übersetzung: Das Telefonate wude ursprünglich auf deutsch geführt, die Anwälte der BVG haben für Gericht das Zitat auf englisch übersetzt, die taz hat das Zitat aus den Gerichtsdokumenten wieder zurückübersetzt.
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