Schulden in den USA: Vier Blocks weiter ist alles anders
Nach der Einigung im Schuldenstreit sind in Washington die von staatlichen Hilfen abhängigen Bewohner sauer. Sie glauben, dass sie dafür büßen müssen.
WASHINGTON taz | In der einzigen schattigen Ecke auf dem Parkplatz vor dem Seniorenheim sitzt ein alter Mann auf einem Mäuerchen und saugt tief an der Zigarette, die er mit zittriger Hand an den Mund führt. Die Sozialkürzungen? "Heutzutage sind alle geldgierig." Die hasserfüllte politische Debatte der letzten Wochen? "Eine Show." Der Präsident? - "Der tut, was er kann. Aber Veränderungen dauern ihre Zeit." Das Gespräch ist beendet. Der Mann ist 85 und hat im Zweiten Weltkrieg auf den Philippinen gekämpft. Er glaubt, dass letztlich sowieso der "König" entscheidet. Der König? "Gott, meine Dame!"
Das Seniorenheim ist vier Blocks vom Repräsentantenhaus und vom Senat der USA entfernt. Im Winter, wenn die Blätter von den Bäumen fallen, ist die weiße Kuppel des Kapitols von der Straße aus zu sehen. Das Seniorenheim für sozial schwache Alte im Südwesten von Washington ist umgeben von zwei "Projects", zwei Wohnsiedlungen, in denen sozial schwache junge Leute und Familien untergebracht sind.
Die kleinen Backsteinreihenhäuser und die Wohnblocks von "Green Leaf" und "James Creek" waren als Übergangslösung gedacht. Sie sind Inseln der Armut inmitten der glänzenden Hauptstadt. Fast alle Bewohner dieser Siedlungen sind von staatlicher Hilfe abhängig. Von Frührente, Wohngeld, Lebensmittelbeihilfen, staatlicher Gesundheitsversicherung. Fast alle sind schwarz und leiden unter der Gewalt auf den Straßen ihres Viertels.
Die Leute huschen vorbei, wenn sie die unbekannte weiße Reporterin sehen, die alles in einen Block notiert. Erst als der Pastor der backsteinroten Baptistenkirche, die direkt gegenüber der Polizeiwache liegt, ein paar seiner Schäfchen einen Wink gibt, kommen kurze Gespräche im Vorgarten der Kirche zustande. "Unfair" nennt eine junge Frau es, dass "ausgerechnet wir Armen weniger Geld bekommen sollen". Eine andere sagt im Vorbeigehen: "Das ist Rassismus." Ein Renter, der ein zum Dreieck gefaltetes Tüchlein in der Brusttasche des silbergrau glänzenden Anzugs trägt, meint: "Diese Sozialkürzungen werden uns weh tun. Aber sie werden auch Amerika schaden. Als Land."
Beten für eine Lösung
In den Gospels während des dreieinhalbstündigen Gottesdienstes an diesem Sonntag haben die Gläubigen an der Delaware Avenue auch um eine Lösung in dem Schuldenstreit gebetet. Sicherheitshalber haben viele Gläubige zusätzlich zu Gott in den vergangenen Tagen auch auf ihre eigene Kraft gesetzt und Briefe geschrieben: an den Präsidenten, an Kongress-Abgeordnete und an den Bürgermeister. Sie haben darum gebeten, die bestehenden Sozialversicherungen zu retten. Demonstriert haben sie nicht. Diskussionen im Stadtteil gab es auch nicht. "In dieser Siedlung ist es sicherer, die Wohnungstüre zuzumachen und den Mund zu halten", sagt eine ältere Dame.
"Klar bin ich betroffen", sagt Grace. "Leute wie ich müssen für die Schulden der USA büßen. Aber wir haben sie nicht verursacht." Die 30-Jährige hat ihre siebenmonatige Tochter im Arm. Es ist ihr fünftes Kind. Die alleinerziehende Mutter lebt von einer niedrigen Witwen- und Waisenrente - ihr Ehemann wurde vor zwölf Jahren ermordet -, von Ernährungsbeihilfen und staatlichen Zuschüssen für einen behinderten Sohn - alles zusammen etwa 1.700 Dollar. Davon bezahlt sie die Miete für das Backsteinreihenhaus, das der Stadt Washington gehört. Und davon legt sie zehn Prozent in den Spendenkorb ihrer Kirche.
"Wir führen Kriege in fern gelegenen Ländern", sagt Grace, "aber zuhause schaffen wir es nicht, dafür zu sorgen, dass alle ein Auskommen haben." Sie hat die Namen ihrer ersten drei Kinder auf ihren rechten Oberarm tätowiert. Und sie hofft, dass sie eines Tages einen richtigen Beruf erlernen.
Der 27-jährige Marcus, der in drei Monaten zum ersten Mal Vater wird, arbeitslos ist und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, gehört zu den wenigen Bewohnern der Siedlung, die täglich Zeitung lesen und Nachrichten hören. Er hat starke Meinungen wie: "Die Politiker im Kongress vertreten nur die kleine Gruppe von Leuten, die Geld haben." Er würde es gut finden, "wenn die Politiker uns Armen zuhören würden". Marcus war noch nie wählen.
Die Sozialstreichungen werden ihn und das Baby empfindlich treffen. Aber er ist zuversichtlich, dass er Wege finden wird, "um Geld auf den Tisch zu bringen". Ohnehin ist er überzeugt, dass Sozialleistungen abhängig machen. Marcus: "Ich würde viel lieber 40 Stunden die Woche arbeiten, als Stütze zu bekommen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Kretschmer als MP von Linkes Gnaden
Neuwahlen hätten der Demokratie weniger geschadet