Pro und Contra Inzestverbot: Darf der Hänsel mit der Gretel?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weist die Klage eines Deutschen ab. Damit bestätigt er das in Deutschland geltende Verbot von Sex unter erwachsenen Geschwistern.
JA
K ann denn Liebe Sünde sein? Das fragte Zarah Leander zu einer Zeit, als die Sitten noch strenger waren. Ehebruch war damals verboten und Homosexualität ebenfalls. Heute gilt im Strafrecht aber längst der Grundsatz: Die einvernehmliche Sexualität von zwei Erwachsenen geht den Staat nichts an.
Eine vielleicht letzte Ausnahme ist das Inzestverbot. Nahe Verwandte dürfen keinen Geschlechtsverkehr miteinander haben. Für die meisten Menschen ist das keine Einschränkung. Manchmal schlägt das Schicksal aber Kapriolen, wie in dem Fall, den der Gerichtshof für Menschenrechte jetzt zu entscheiden hatte. Zwei Geschwister wachsen getrennt auf, lernen sich kennen und lieben und haben gemeinsame Kinder.
Nach dem Straßburger Urteil durfte Deutschland hier zwar strafen – muss es aber nicht. Wie in vielen anderen europäischen Staaten könnte und sollte der Sex zwischen Geschwistern nun auch bei uns entkriminalisiert werden. Denn es gibt keine überzeugende Begründung für ein derartiges Strafgesetz.
Dass ein Partner unterlegen ist, kann in allen Arten von Beziehung vorkommen, nicht nur bei der Geschwisterliebe. Für Missbrauch und Gewaltverhältnisse gibt es schon andere Strafbestimmungen. Auch die verwirrenden Verwandtschaftsverhältnisse der im Inzest gezeugten Kinder sind ein schwaches Argument. Heute gibt es schließlich viele zusammengewürfelte Familien, die auch nicht dem traditionellen Familienbild entsprechen.
Am problematischsten ist aber der Verweis auf drohende Erbschäden. Nicht einmal für Menschen mit Erbkrankheiten gibt es heute Beschränkungen beim Paarungsverhalten. Es ist daher schwer zu begründen, warum gerade bei Geschwistern die Gefahr von krankem Nachwuchs zu einem strafrechtlichen Verbot führen soll.
Man muss sich immer vor Augen halten – und der Fall von Patrick Stübing hat es unübersehbar gemacht: Wer zu seiner Liebe steht und das Gesetz ignoriert, muss für Jahre ins Gefängnis. So etwas sollte es in einem aufgeklärten Staat nicht geben. Straftatbestände ohne Opfer und ohne rationalen Strafgrund sind abzuschaffen. Es ist nicht Aufgabe des Staates, eine zweifelhafte Moral durchzusetzen.
Leider ist zu befürchten, dass die Debatte nach Durchlaufen des Rechtswegs nun zu Ende ist. Doch das wäre kurzschlüssig. In der Demokratie beschließt das Parlament die Gesetze und kann sie ändern. Es stünde dem Bundestag gut zu Gesicht, diesen Fall zum Anlass für eine Liberalisierung zu nehmen. Auch wenn es nur um ganz wenige Betroffene geht. CHRISTIAN RATH
NEIN
Das Beste an der Debatte ist die Debatte: Wenn selbst die älteste zivilisatorische Norm vor Gericht verhandelt und öffentlich diskutiert werden kann, zeigt dies einen gesellschaftlichen Fortschritt an: Ein Verbot zu prüfen ist besser, als es willfährig hinzunehmen. Aber ein aufklärerischer Akt bleibt dies nur, solange man nicht hinter das zurückfällt, was Moses, Solon und etliche namenlose Priesterinnen und Häuptlinge in allen Kontinenten wussten: Bruder und Schwester sind tabu, ebenso wie Sohn und Tochter, Vater und Mutter.
Das Inzestverbot ist kein beliebiges Gesetz, keine anachronistische Vorschrift, die mit selbstbestimmter Sexualität und aufgeklärter Gesellschaft unvereinbar wäre, im Gegenteil. Es ist, um mit dem Anthropologen Claude Lévi-Strauss zu sprechen, eine Voraussetzung von Gesellschaftlichkeit – und somit die Voraussetzung von Aufklärung und Persönlichkeitsrechten.
Fast ausnahmslos alle Gesellschaften haben den Inzest sanktioniert. Zugleich wimmelt es in den Mythen vieler Völker von inzestuösen Beziehungen: Zeus und Hera bei den Griechen, Frey und Freya in Skandinavien, Kain, Seth und ihre anonymen Schwestern im Alten Testament. Sigmund Freud hat diesen Widerspruch mit einem Trieb zum Inzest erklärt, dem „ödipalen Begehren“, dessen Sublimierung die erste zivilisatorische Leistung gewesen sei.
Das Inzestverbot ermöglicht die Unterscheidung zwischen Familie und Gesellschaft; zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Die Familie wird zum Schutzraum, aus dem das Sexuelle verbannt ist (auch darum erscheint Missbrauch in der Familie als besonders skandalös, und nicht umsonst sind sexuelle Beziehungen zu Kindern reglementiert).
Und das Verbot des Inzests beinhaltet auch ein Gebot: Wer einen Partner oder eine Partnerin sucht, muss in die Welt hinaus, und sei es nur bis ins nächste Dorf. Das aber bedeutet: Kommunikation, Mobilität, Fortschritt. Das Gegenteil ist das sprichwörtliche Kaff in den Alpen, das seit Jahr und Tag im eigenen Saft brütet.
Darum geht es – und nicht um fragwürdige, weil behindertenfeindliche „eugenische Gesichtspunkte“, mit denen das Bundesverfassungsgericht im vorliegenden Fall das Inzestverbot schon 2008 gerechtfertigt hatte. Es geht auch nicht um den Gleichheitsgrundsatz – selbstverständlich können Allergiker oder Diabetiker miteinander Kinder bekommen, auch wenn dies das Risiko von Erbkrankheiten erhöht. Es geht um eine zivilisatorische Norm. Weniger prätentiös formuliert: Milliarden Menschen bieten eine wunderbare Auswahl, warum sollte man mit seinen Geschwistern ins Bett? DENIZ YÜCEL
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