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Pressestimmen zur Wulff-Affäre"Es ist ein Trauerspiel"

Wulffs Anruf beim "Bild"-Chefredakteur Diekmann sorgt für Diskussionen. Aber nicht nur Wulff steht in der Kritik, sondern auch das Verhalten der "Bild"-Zeitung.

Nach der neuerlichen Affäre um Bundespräsident Christian Wulff beschäftigen sich die Kommentartoren der Zeitungen mit der Causa Wulff, seiner Glaubwürdigkeit und ob er das Amt des Bundespräsidenten noch ausfüllen kann. Taz.de präsentiert eine Auswahl von den Meinungsseiten:

Tagesspiegel (Berlin): Es ist ein Trauerspiel, ein großes, dass das neue Jahr im Inneren mit diesem Fall beginnt: dem Fall des Christian Wulff, in des Wortes zweifacher Bedeutung. Jetzt geht es nicht mehr um die Frage, ob ein Präsident, ob Minister- oder Bundespräsident, einen väterlichen Freund haben darf, der ihm 500.000 Euro für einen Hauskauf leiht.

Süddeutsche Zeitung (München): Jeder Lokaljournalist weiß, dass Abgeordnete oder Bürgermeister gerne anrufen, um unliebsame Berichterstattung zu verhindern. Doch die Mischung aus Naivität und Dreistigkeit, mit der Wulff agiert hat, bestürzt. Er ist nicht der Landrat von Osnabrück und auch nicht mehr Ministerpräsident von Niedersachsen, sondern das Oberhaupt des Staates. Dieses Amt aber ist für Wulff offenbar zu groß. Die Sicherungen, die bei einem Präsidenten im Falle einer - politischen wie privaten - Krise funktionieren sollten, funktionieren bei ihm nicht.

Frankfurter Allgemeine Zeitung (Frankfurt a. M.):  Auf dem Weg nach oben tanzen viele Politiker mit den bunten Blättern Walzer, gern auch bei zweiten Hochzeiten. Dann ist das Verhältnis noch ungebrochen. Was aber sollen 'die Medien' tun, wenn ein Politiker, sogar der Bundespräsident, ihnen später mit Scheidung droht, mit dem 'endgültigen Bruch'? Ihre Arbeit.

Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Essen):  Es wurde gewarnt, der Rücktritt des zweiten Bundespräsidenten in Folge käme einer Staatskrise gleich. Das ist falsch. Unsere Demokratie hat sich bislang gerade dann bewährt, wenn sie ihre Institutionen schützen musste. Darauf kann man bauen.

Financial Times Deutschland (Hamburg): Ein Bundespräsident muss vielleicht nicht hinwerfen, weil er früher im niedersächsischen Landtag die Wahrheit gedehnt hat. Er muss es auch nicht, weil er mal bei befreundeten Unternehmern Urlaub macht oder weil er einen besonders günstigen Zinssatz für einen Immobilienkredit bekommt. Auch nicht, weil er auf berechtigte Kritik mit Salamitaktik reagiert und die Fehler eingesteht, die ohnehin schon bekannt sind.

Berliner Morgenpost (Berlin): Es ist nicht ungewöhnlich, dass Politiker bei Chefredakteuren anrufen. Die Ängstlichen betteln um Gnade, die Coolen fragen, ob sie Details beisteuern dürfen, die Abgebrühten erinnern an gemeinsame Ausflüge. Drohungen stoßen nur die Unsouveränen aus. Und die wirklich Ungeschickten schimpfen auf die Mailbox, wofür jeder Journalist dankbar niederkniet.

Berliner Zeitung (Berlin):  Wir geben unserem Präsidenten ein Schloss, damit er uns, das Volk, mit Stil und Würde repräsentiert. Wir geben ihm viele Mitarbeiter, damit er zu uns sprechen kann mit einer Fachkenntnis und Autorität, die uns zuhören und hoffentlich dazulernen lässt. Gemessen an diesem Anspruch, kann man nur sagen: Nicht die Affäre ist 'zu klein' für einen Präsidenten. Dieser Präsident ist zu klein für sein Amt.

Welt Online (Berlin):  Was für ein Menschenbild muss ein Bundespräsident haben, der ernsthaft glaubt, missliebige Journalisten könnten von der Suche nach der Wahrheit durch Intervention des Präsidenten beim Chef gebremst werden? Wer so denkt und handelt, interessiert sich nicht sonderlich für die Meinungsfreiheit und das mitunter unangenehme Wühlen einer unangepassten, freien Presse, sondern hat ein hierarchisches Verständnis von Gesellschaft. Er missachtet die Regeln der offenen Bürgergesellschaft, die sich nicht auf eine respektlose Hackordnung und Ansagen von oben reduzieren lässt.

Neue Osnabrücker Zeitung (Osnabrück): Egal, wie man zu Wulff steht: Seine Nehmerqualitäten sind beachtlich. Um jede Doppeldeutigkeit zu vermeiden, gemeint ist hier das Stehvermögen, das der Bundespräsident bislang an den Tag legt, obwohl er seit dem 13. Dezember 2011 einen medialen Nackenschlag nach dem anderen kassiert. Dies zeigt eines überdeutlich: Beim Staatsoberhaupt liegen die Nerven blank. Vom oft gehegten Sonnyboy zum Prügelknaben des meinungsmachenden Boulevard-Blatts, das ist menschlich schwer verkraftbar. Es rechtfertigt aber nichts. Wulff offenbart ein Macht-, Selbst- und Politikverständnis, das ihn und sein Amt weiter beschädigt.

Hannoversche Allgemeine (Hannover): "Die Presse- und Rundfunkfreiheit ist für den Bundespräsidenten ein hohes Gut" - diese jüngste Erklärung des Bundespräsidialamtes markiert einen weiteren Tiefpunkt. Hatte ein Bundespräsident es jemals nötig, erklären zu lassen, dass er die Pressefreiheit achte?

Hannover Zeitung (Hannover): All die vorweihnachtlichen Enthüllungen über Bundespräsident Christian Wulff waren alarmierend genug. Zusammen mit seinem unverfrorenen Verhalten hätten sie für einen Rücktritt ausgereicht.

Leipziger Volkszeitung (Leipzig): Von einem Bundespräsidenten wird auch in scheinbaren Privatangelegenheiten ein gewisses Maß an Souveränität, Seriosität und ein Mindestgrad an Selbstdisziplin erwartet. Vielleicht hat Christian Wulff auch mit noch Schlimmerem bei Bild gerechnet - und es wurde dann zunächst doch nur eine lästige Kreditaffäre publik? Es hat sich gezeigt, dass die Popularität des Amtes, der Glanz seiner Gattin, die Sehnsucht vieler Bundesbürger nach einem erklärenden ruhenden Pol, ein Präsidenten-Paar nicht immunisiert.

Weser Kurier (Bremen): Diese Schmierenkomödie mögen nun auch jene nicht mehr sehen, welche die Bild-Zeitung hassen und Wulff zugestehen, wenigstens zu Integration und Religion ein paar kluge Sätze gesagt zu haben. Zu anderen Großthemen kam ja nicht mehr viel, doch das ist jetzt auch egal: Wer mag dem Mann noch zuhören, wer will ihn noch ernst nehmen? Irgendwann wird auch die Kanzlerin kühl kalkulieren, dass sein Verbleiben im Amt ihr und dem Land mehr schadet als ein zweiter Präsidentenrücktritt.

Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag (Flensburg): So ist das also: Als die Springer-Medien ihm noch wohlgesonnen waren, da erlaubte Wulff der "Bild"-Zeitung schon mal exklusive Einblicke ins Privatleben. Wehe aber, es wird kritisch. Dann werden aus den Seilschaften Feindschaften. Wenn der Bundespräsident mit seinem privaten Hauskredit und die Einladungen reicher Unternehmen zum Urlaub noch nicht alles Vertrauenskapital verspielt hat - mit dieser billigen Form der - missglückten - Nachrichtenunterdrückung hat er sich selbst in Misskredit gebracht. Das gilt allerdings auch für die "Bild"-Zeitung. Anstatt die Intervention des Bundespräsidenten sofort nach dem Anruf am 12. Dezember öffentlich zu machen, ließen die Journalisten die Affäre köcheln. Sie wussten um die Brisanz des Vorgangs; in Journalistenkreisen kursierten längst die Gerüchte über den dreisten Anruf.

Hamburger Abendblatt (Hamburg): Ob der Bundespräsident Christian Wulff (CDU) in den Geschichtsbüchern große Spuren hinterlassen wird, steht noch dahin. Aber in die Lehrbücher der Krisenkommunikation dürfte es der Osnabrücker zweifellos schaffen - als Beispiel, wie man eine kleine Affäre durch Tricksen, Vertuschen und Verschweigen in ein großes Scheitern verwandelt. Längst geht es nicht mehr um die Frage, ob der Kredit für das bescheidene Haus in Großburgwedel zur Staatsaffäre taugt. Sondern es geht vielmehr um die Frage, ob dieser Bundespräsident den Anforderungen und der Würde seines Amtes noch gewachsen ist.

Was bleibt, ist der fatale Eindruck, dass der Präsident, der gerade wegen seiner Glaubwürdigkeit in das Amt gewählt wurde, nicht mehr glaubwürdig ist. Längst ist die Grenze überschritten, wo Wulff nicht nur sich als Politiker schadet, sondern auch dem höchsten Amt der Bundesrepublik. sk/kap (mit Material von dpa)

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