Philosoph über neue Technologien: „Die Linke hat den Anschluss verpasst“
Armen Avanessian ist Beschleunigungsphilosoph – deshalb redet er schnell. Etwa darüber, warum ihm die Linke zu gestrig ist und warum er Hirnchips toll findet.
Der Beschleunigungsphilosoph – der „Akzelerationist“ – Armen Avanessian lebt in einem Altbau in Berlin-Mitte. Mit seiner Jeans, seinem hellblauen Hemd und den orangefarbenen Turnschuhen sieht er aus wie ein typischer Vertreter der Generation Web 2.0. Das Smartphone und seinen aufgeklappten Laptop lässt er kaum aus den Augen – auch nicht, wenn er spricht. Und Avanessian spricht schnell. Sehr schnell.
taz.am wochenende: Herr Avanessian, würden Sie sich einen Computerchip in das Gehirn einpflanzen lassen, wenn dieser Ihre Denkleistung beschleunigen könnte?
Armen Avanessian: Vielleicht sind die Chips ja schon längst in unseren Gehirnen. Ich denke und schreibe schon schneller, obwohl oder weil ein Teil meines organischen Langzeitgedächtnisses verkümmert, ich aber weiß, wie ich es gemeinsam mit meiner Festplatte bedienen kann. Derrida wurde einmal gefragt, was er sich wünschen würde, wenn er einen Wunsch frei hätte: Seine Antwort war: „Ich würde gerne irgendeine Elektrode in meinem Kopf haben, die es mir ermöglicht, dass ich so schnell schreiben kann, wie ich denke.“
Sie würden sich den Chip also implantieren lassen?
Klar, warum denn auch nicht? Er dürfte natürlich nicht zu mehr Überwachung führen. Ich möchte auch nicht, dass irgendwelche Unternehmen mit meinem Denken einen ökonomischen Mehrwert akkumulieren. Aber wenn diese Chips unsere Denkkräfte und unsere Produktivkräfte auf progressive Art und Weise fördern würden, wären sie doch ein Fortschritt. Es gibt diesen wunderbaren Satz von Spinoza: „Wir wissen noch nicht, was unser Körper kann.“ Akzelerationistisch übersetzt heißt der Satz: Wir wissen noch gar nicht, was der techno-soziale Körper kann.
„Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit.“ Wissen Sie vielleicht, aus welchem Text dieser Satz stammt?
Das klingt mir nach Futurismus.
Richtig. Er stammt aus Marinettis 1909 erschienenem Manifest des Futurismus. Ist der Akzelerationismus eine Art Neofuturismus?
Das ist ein grundlegendes Missverständnis. Im Akzelerationismus gibt es keine Ästhetisierung der Politik. Nirgendwo geht es da um eine Schönheit oder um eine Glorifizierung von Geschwindigkeit. Wir stellen einfach fest, dass wir in einer beschleunigten Wirklichkeit leben, die wir zum Großteil nicht verstehen. Beschleunigung meint eine positive Dynamik, die nicht gleichbedeutend mit mehr Geschwindigkeit ist. Wir sollten uns die technologischen Beschleunigungsgewinne aneignen, um eine andere, eine bessere Gesellschaft aufzubauen.
Der Mensch: Armen Avanessian, 1973 in Wien geboren, ist Philosoph. Er hat Politikwissenschaften, Literatur und Philosophie studiert, als Journalist in Paris und im Verlagswesen in London gearbeitet. Von 2007 bis Anfang 2015 arbeitete er als Literaturwissenschaftler am Peter Szondi-Institut der FU Berlin. Momentan lebt er von Vorträgen, Projekten und Lehraufträgen an Universitäten.
Der Philosoph: Avanessian hat knapp 30 Bücher geschrieben und herausgegeben, viele davon im Merve Verlag, wo er seit 2014 Chefredakteur ist. Mit der Sammelschrift „#Akzeleration“ wurde er bekannt als Vertreter des Akzelerationismus. 2015 zählte ihn das Magazin Wired zu einem der wichtigsten Vordenker des Jahres.
Wie soll das aussehen?
Weshalb nutzen wir zum Beispiel die Algorithmen von Facebook nicht für neue Formen der Zusammenarbeit, der Kommunikation, der politischen Selbstbestimmung? Warum nutzen wir die Möglichkeiten der Automatisierung nicht, um allgemein viel weniger zu arbeiten? Die Linke muss endlich ihren technologischen Analphabetismus überwinden.
Wie meinen Sie das?
Das Problem ist, dass die Linke, auch die linke Theorie, nicht mehr hegemonial ist, dass sie nicht mehr die entscheidenden Stichworte liefert und ihre Überzeugungskraft verloren hat. Sie hat den Anschluss an die modernen Technologien verpasst. Es gelingt ihr nicht, den technologischen Fortschritt aus der Zwangsjacke des Kapitalismus zu befreien. Rückzug und Entschleunigung sind keine Lösungen. Ganz im Gegenteil muss man die Technologien des Kapitalismus nutzen, um soziale und politische Fortschritte zu bewerkstelligen. Die echten Beschleunigungsgewinne des Neoliberalismus haben weder zu weniger Arbeit noch zu weniger psychischem Druck geführt. Darum geht es uns doch.
Die Linke hat versagt?
Die Linke hat die Zukunft aufgegeben. Es gibt kein emphatisches, positives Konzept von Zukunft. Jetzt haben wir die siebzehnte Generation Frankfurter Schule. Die haben den Karren doch vollkommen an die Wand gefahren. Stichworte: Weltklimakatastrophe, Finanzkrise, Aushöhlung der Demokratie. Auch die Linke hat sich von einer bestimmten Gleichung überzeugen lassen: Moderne gleich Kapitalismus gleich Fortschritt und gleich Beschleunigung. Wenn man diese fatale Gleichung akzeptiert, bleibt einem nichts anderes übrig, als auf Entschleunigung zu setzen.
Was ist falsch an Entschleunigung?
Wir brauchen nur aus der Haustür hinauszugehen und dort begegnen uns Tausende von vermeintlichen Entschleunigungsoasen, etwa ein in vielerlei Hinsicht regressiver und folkloristischer Bioboom. Die Problemlösungsansätze in Fragen des Klimaschutzes müssen jedoch von der lokalen Ebene ausgehend ein globales Level erreichen. Es reicht nicht, ein paar Karotten in Brandenburg zu pflanzen. Das mag eine Option für einige wenige besser Situierte sein, hat aber null gesellschaftliche Transformationskraft.
Die intellektuelle Strömung ist noch jung. Sie ist links, kritisiert aber gleichzeitig das kapitalismuskritische Dogma der traditionellen Linken. Nicht mehr Che Guevera ist Revolutionsfigur, sondern Edward Snowden. Fortschritte und Innovationen sollen positiver besetzt, technologische Beschleunigungsgewinne innerhalb der Gesellschaft besser genutzt werden.
Wie sieht denn Ihre Alternative aus? Und was machen Sie anders?
Einer der Kerngedanken der akzelerationistischen Philosophie ist, dass man von einer imaginierten fernen Zukunft auf die Gegenwart schaut. Damit wollen wir Visionen erzeugen. Wir können in einer anderen Gesellschaft leben, wenn wir uns von dem Diktat befreien, dass der Kapitalismus keine Alternative hat. Der Akzelerationismus ist ein Aufruf, ein Manifest, auch ein Appell.
Ein Appell wozu?
Wir müssen uns technologisieren und die Programmierer politisieren. Wir brauchen andere Formen, wir brauchen andere Ideen und andere Widerstandsfiguren. Die neuen Widerstandskämpfer schauen nicht mehr aus wie der Che Guevara mit seinem Rauschebart im Urwald, nein, das sind die Assanges und die Edward Snowdens. Die sind mit einem bestimmten technologischen Wissen ausgestattet, kennen die Distributionskanäle, die sehen aus wie kleine Bürokraten und die haben verstanden, was Widerstand heute bedeutet. Der Edward Snowden hat, soweit es mir bekannt ist, übrigens keine Karotten gepflanzt und auch nicht den Platz vor der Europäischen Zentralbank besetzt.
Was haben Sie gegen die Occupy-Bewegung?
Die Widerstandsformen von Mitte des 20. Jahrhunderts nützen nichts gegen Gegner, die mit avancierten technologischen Mitteln kämpfen. Es bringt nichts, gegen die NSA oder einen hochkomplexen Finanzmarkt auf die Straße zu gehen und Flugblätter zu verteilen. Die Glorifizierung von flachen Entscheidungsstrukturen, die Fetischisierung von Offenheit, Horizontalität und Inklusion seitens der Mehrheit der heutigen Linken hat die Voraussetzungen für ihre Wirkungslosigkeit geschaffen. Da muss man sich doch wenigstens fragen dürfen, ob andere Formen demokratischer Prozesse erfolgreicher sein könnten.
Von welchen Formen sprechen Sie?
Der Akzelerationismus sagt, wenn wir etwas verändern wollen in unserer beschleunigten Gesellschaft, geht es nicht anders, als dass wir die Beschleunigung annehmen und versuchen, sie zu navigieren, ihr eine progressive, sinnvolle Richtung zu geben. Mit einer andauernden Fetischisierung horizontaler Strukturen, etwa nur mit kleinen Versammlungen, ist das nicht zu lösen.
Und wie wollen Sie diese Probleme lösen?
Wir leben doch teilweise bereits in einer postdemokratischen Gesellschaft. Schauen Sie sich die aufgezwungene Austeritätspolitik in Griechenland an. Oder einen Victor Orbán, der in Ungarn die Meinungsvielfalt unterdrückt. Da darf man machtpolitisch nicht naiv sein. Wir müssen eine intellektuelle Infrastruktur aufbauen, welche das vermeintlich alternativlose Narrativ des Neoliberalismus zerstört. Wir könnten zum Beispiel in einer Gesellschaft leben, in der es ein generelles Grundeinkommen gibt. Dies würde unglaubliche Kapazitäten an Kreativität und Intelligenz freisetzen. Warum tun wir das nicht? Ich begreife den Akzelerationismus als ein wichtiges Irritationsphänomen, als eine Art Plattform, die Menschen zusammenbringt, die sich eine andere Zukunft vorstellen können. Mich interessiert am Akzelerationismus die Dynamik, die Bewegung und nicht irgendeine festgefahrene Doktrin.
Willkürliche Wahlen, Bomben in den kurdischen Gebieten, Präsident Erdogan, der um die Macht kämpft. Wohin führt der Weg der Türkei? Rückt sie näher an den Nahen Osten? Was geschieht mit den Kurden? Fragen, die sechs Kulturschaffende aus der Türkei in der taz.am Wochenende vom 26./27. September diskutieren – bei einer Flasche Schnaps. Außerdem: Das Massaker an den Studenten in Mexiko jährt sich am 26. September. Und: Allergien, die Plagegeister der modernen Industrienation. Warum das so ist und was wir über sie wissen. Das alles – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Das klingt sehr vage.
Wir versuchen lediglich Handlungsalternativen aufzuzeigen. Wir sagen, dass das, was die Moderne einmal ausgemacht hat, nämlich ein positives Zukunftsversprechen, was linke Politik, was die Aufklärung einmal ausgemacht hat, dass wir mit unserer Rationalität, mit unserem Wissen, mit einer bestimmten politischen Emphase eine bessere Gesellschaft herstellen können, immer noch möglich ist. Schauen Sie sich doch zum Beispiel einmal das Feld der zeitgenössischen Kunst an. Sie ist vollkommen orientierungslos und wird durch ständig leerlaufende Innovationen bestimmt. In der zeitgenössischen Kunst werden alle Übel der Welt thematisiert, aber der eigene Beitrag zu dieser Ökonomie wird einfach systematisch ausgeblendet.
Worin besteht der Beitrag der Kunst?
Sie ist der Wegbegleiter des spekulativen Finanzkapitalismus, hat ihm die Stichworte gegeben: Individualismus, Erfinde dich ständig neu, sei innovativ, Flexibilitätslogik. Es ist ja praktisch, dass die Kunst keinen bestimmten Gebrauchswert hat, es ist ja praktisch, dass man sie nicht über die investierte Arbeitszeit bestimmen kann. Sie ist ein perfektes Spekulationsinstrument. Die Intellektuellen schreiben am liebsten Katalogtexte, die zeigen, wie kritisch dieser oder jener meist befreundete Künstler ist, um einen Mehrwert zu generieren. Und dann landen sie auf der Art Basel, wo sie eigentlich alle schon immer hinwollten. Das ist doch verlogen.
Jetzt sind die Künstler an allem schuld?
Man kann an ihnen etwas Exemplarisches aufzeigen. Der Mainstream in der Kunstwelt ist mit der Kritischen Theorie aufgewachsen und sein ganzes Selbstverständnis basiert auf Kapitalismuskritik. Mit dieser Haltung bedienen sie die Funktionsweise des kritisch-ästhetischen Kapitalismus, anstatt aus diesem Kreislauf auszubrechen. Sie schimpfen über Gentrifizierung, haben vorher aber andere Leute weggentrifiziert. Nach der Moderne, nach der Avantgarde, nach diversen Kunstbewegungen, die alle eine Zukunft, die alle eine Emphase des Fortschritts hatten, steht jetzt ein selbstreflexives Herumgejammere über die böse Welt da draußen im Vordergrund. Anstatt die gesellschaftlichen Umstände zu manipulieren, erschöpft sich die zeitgenössische Kunst in Selbstmitleid. Verstehen Sie, ich hoffe einfach, dass es etwas Neues nach dem Kapitalismus und nach der zeitgenössischen Kunst geben wird.
Ein paar Kritiker bezeichnen den Akzelerationismus als linke Hipstertheorie. Sie meinen damit einen Hype, der vermutlich so schnell wieder vergehen wird, wie er gekommen ist.
Meine Antwort ist Hyperstition. Das ist eine Mischung von Superstition und Hype. Das sind Fiktionen, die ihre eigene Realität produzieren, und die darüber Bescheid wissen, wie unsere ökonomische und politische Wirklichkeit heutzutage hergestellt wird. Ob und wie diese Fiktionen in den kommenden Jahren andere Realitäten erzeugen werden, wird sich zeigen. Aber ein profanes „Weiter so“ mit dem Klimawandel, der Monopolisierung in der digitalen Welt, den Überwachungsaktivitäten von Unternehmen und Staaten, den Flüchtlingsströmen und den immer wiederkehrenden Finanzkrisen ist bestimmt auch keine Lösung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch