Medizinische Versorgung: „Die Informationspflicht ist neu“
Interdisziplinär zusammengesetzte Spezialistenteams sollen künftig gemeinsam entscheiden, welche Therapie für den Patienten notwendig und am besten ist.
taz: Frau Klakow-Franck, es liegt in der Natur komplexer Erkrankungen wie Krebs, dass zu ihrer Behandlung Ärzte verschiedener Disziplinen zusammenarbeiten und sich austauschen müssen, egal ob sie nun im Krankenhaus oder in der eigenen Praxis tätig sind. Alles andere wäre schlechte Therapie und Missachtung des Patienten. Und jetzt kommen Sie und präsentieren ein Konzept mit dem sperrigen Namen „ambulante spezialfachärztliche Versorgung“ zur besseren Vernetzung von ambulanter und stationärer Versorgung als quasi revolutionären Durchbruch. Was soll das?
Regina Klakow-Franck: Das Alleinstellungsmerkmal dieser Art von Versorgung, die der Gemeinsame Bundesausschuss derzeit im Auftrag des Gesetzgebers konzipiert und die im Jahr 2014 in Deutschland starten soll, ist die Bildung von interdisziplinär zusammengesetzten Spezialistenteams. Die Bildung dieser Teams wird systematisch, nicht nur theoretisch oder zufällig erfolgen. Ambulante spezialfachärztliche Versorgung war bisher als besonderes Versorgungsangebot ausschließlich den Krankenhäusern vorbehalten.
Zwar gibt es auch schon heute sektorenübergreifende Kooperation, aber regional sehr unterschiedlich verteilt und abhängig vom Engagement der einzelnen Akteure. Künftig werden auch niedergelassene Spezialisten an dieser Versorgungsform teilnehmen können, durch Vernetzung untereinander oder in Kooperation mit einem Krankenhaus – vertraglich abgesichert, qualitätskontrolliert und extrabudgetär vergütet.
Die eigentliche Innovation scheint der zusätzliche finanzielle Anreiz für die teilnehmenden Ärzte zu sein?
Ihre Skepsis in Ehren, aber der eigentliche Anreiz dürfte in den sich neu eröffnenden Kooperationsmöglichkeiten liegen. Dem Gemeinsamen Bundesausschuss als Richtliniengeber geht es jedenfalls um verbesserte Versorgungsangebote aus einer Hand, vor allem auch auf dem Land. Ein Beispiel, wo dies weitestgehend schon gelungen ist, sind die Brustzentren. Wir wollen, dass künftig auch anderen schwer kranken Patientinnen und Patienten, die etwa an Tumoren der Bauchhöhle, an gynäkologischen Tumoren oder an rheumatologischen Erkrankungen leiden, in ihrer Region eine koordinierte Behandlung angeboten wird, die diesen Namen auch verdient. Gleiches gilt für Menschen mit sehr seltenen Erkrankungen. Oft braucht es mehr als einen einzelnen Spezialisten, um die Krankheit überhaupt zu erkennen.
Welchen Zusatznutzen bringt ein solches Team dem Patienten in seiner Therapie?
52, ist Gynäkologin und seit Juli 2012 unparteiisches Mitglied des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), also des mächtigsten Gremiums der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, das festlegt, welche Therapien, Arznei- und Hilfsmittel von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Sie leitet beim GBA den Unterausschuss „Ambulante Spezialärztliche Versorgung“. Zwischen 2005 und 2012 war sie stellvertretende Hauptgeschäftsführerin der Bundesärztekammer.
Die neue ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV) soll Patientinnen und Patienten in Deutschland ab Anfang 2014 flächendeckend zur Verfügung stehen. Das hat der Gemeinsame Bundesausschuss, das mächtigste Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, im März per Richtlinie beschlossen.
Ziel der ASV ist eine engere Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung. Ärzte sollen künftig in interdisziplinären Teams zusammen arbeiten und sich so auch wissenschaftlich gegenseitig jeweils auf den neuesten Stand bringen.
Die ASV richtet sich an Patientinnen und Patienten mit komplexen Erkrankungen, die zudem eine schwere Verlaufsform haben.
Dazu zählen Tumoren der Bauchhöhle, gynäkologische Tumoren, rheumatologische Erkrankungen und Herzinsuffizienz. Auch wird sie greifen bei seltenen Erkrankungen wie Tuberkulose oder Mukoviszidose. Gesetzliche Grundlage ist das Sozialgesetzbuch V. (hh)
Die Patienten müssen sich die notwendigen Spezialisten nicht selber zusammensuchen, denn das Spezialistenteam steht ja für eine umfassende Behandlung bereit. Es wird durch einen Teamleiter koordiniert, der zudem die Aufgabe hat, allgemein über das besondere Versorgungsangebot der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung zu informieren sowie konkret auch darüber, wie die optimale Behandlung für den einzelnen Patienten aussieht und welcher Spezialist des Teams wann welche Versorgung anbieten soll. Diese Informationspflicht den Patientinnen und Patienten gegenüber ist neu, die gab es in der alten Richtlinie bisher nicht.
Frau Klakow-Franck, das ist doch ein Armutszeugnis.
Das deutsche Gesundheitswesen steht im internationalen Vergleich zwar sehr gut da, aber die Koordination der Versorgung – aus dem Blickwinkel der Patienten – gehört bislang nicht zu seinen Stärken. Es kommt immer wieder vor, dass beispielsweise ein Krebspatient nach der Operation im Krankenhaus nicht weiß, wo er die geeignete Anschlussbehandlung findet. Oder dass sich niemand zuständig fühlt, für den Betroffenen eine psychoonkologische Behandlung zu organisieren oder eine Dauerschmerzversorgung.
Woher rührt dieser ärztliche Zynismus?
Zynismus beschreibt das Problem aus meiner Sicht ganz und gar nicht richtig. Der Medizinbetrieb läuft heutzutage bereits auf einem sehr hochspezialisierten Niveau. Das ist einerseits erfreulich, aber das Risiko dieser Hochspezialisierung ist mitunter ein ärztliche Tunnelblick: Wir sind an einer Grenze angelangt, an der die Qualität der Patientenversorgung Gefahr läuft, wieder abzunehmen, weil die medizinische Gesamtschau auf den Patienten leidet. Hier müssen wir ansetzen: Spitzenmedizin muss sich heute vor allem als koordinierte Teamleistung verstehen und nicht nur als herausragende Einzelleistung.
Der Gebärmutterhalskrebs ist eine der Krankheiten, für die es künftig ambulante spezialfachärztliche Versorgung geben soll. Was läuft bei der konventionellen Behandlung in der Regelversorgung schief?
Zum Glück stellen wir den Gebärmutterhalskrebs immer häufiger bereits im Frühstadium fest. Dann ist die Therapie mit der Gebärmutterhalsentfernung oder der Entfernung der gesamten Gebärmutter durch einen Gynäkologen abgeschlossen. Aber bereits in einem noch relativ frühen Stadium streut diese Art von Karzinom und kann sich im ganzen Körper ausbreiten. Folglich müssen Strahlen- und Chemotherapeuten in das Behandlungsregime einbezogen werden. Erfreulicherweise haben sich für verschiedene Krebserkrankungen interdisziplinäre Tumorkonferenzen bereits gut etabliert. Aber eine vergleichbare interdisziplinäre Abstimmung findet im späteren Verlauf einer Krebserkrankung oder bei anderen komplexen Erkrankungen nicht immer und nicht überall statt. Anstatt gemeinsam zu entscheiden, was die beste Therapie für die Patientinnen und Patientin ist, macht jeder Arzt in bester Absicht dann das, was er selbst am besten kann.
Welche Folgen hat das für die Patientinnen?
Eine unzureichende interdisziplinäre Abstimmung kann eine Unterversorgung, aber auch eine Übertherapie zur Folge haben. Eine Übertherapie bestünde zum Beispiel dann, wenn in gutem Glauben radikal alle Lymphknoten entfernt würden, obwohl dies medizinisch vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre. Patientinnen mit radikaler Lymphknotenentfernung leiden oft unter einem massiven Lymphstau und werden dann womöglich mit diesem Problem auch noch alleine gelassen. Solche Fälle sollen künftig mit der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung vermieden werden.
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