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Mathedidaktiker über Pisa„Schluss mit dem Geteste“

In einer Woche werden die Ergebnisse der fünften Pisa-Studie vorgestellt. Der Mathematikdidaktiker Wolfram Meyerhöfer hält die Tests für willkürlich und schädlich.

Kritische Fragen zu der Pisa-Testeritis blieben weitgehend aus. Bild: dpa
Interview von Jens Wernicke

taz: Herr Meyerhöfer, Sie haben die Pisa-Studien von Anfang an kritisiert. Wogegen richtet sich Ihre Kritik?

Wolfram Meyerhöfer: Nun, ich habe ursprünglich mal versucht, mit Hilfe von Pisa und ähnlichen Studien Wege zur Verbesserung von Schule zu finden. Dafür geben diese Studien aber nichts her. Es war, als würden Sie ein Bild aufhängen wollen: Sie schlagen einen Nagel in die Wand und Schlag für Schlag bröckelt Ihnen die Wand entgegen. Bei näherer Betrachtung erweist sich jedes theoretische und methodische Element von Pisa als brüchig.

Brüchig? Inwiefern?

Die Tests werden nach oberflächlichen Kriterien zusammengestückelt, es gibt dabei nicht mal den Versuch, darzustellen, was überhaupt gemessen wird.

Moment. Pisa untersucht, inwieweit Schüler in der Lage sind, ihr Wissen anzuwenden und Probleme zu lösen, und zwar auf fünf verschiedenen Kompetenzstufen.

Die Pisaner glauben, ihr banales Richtig-falsch-Schema würde schon irgendwie ein sinnvolles Resultat ergeben. Nur haben sie keinerlei Vorstellung davon, wie dieses Sinnvolle zustande kommen soll.

Bild: Uni Paderborn
Im Interview: Wolfram Meyerhöfer

geboren 1970 in Woldegk (Vorpommer), studierte Mathematik und Physik an der Universität Potsdam, wo er auch 2004 promovierte. Inzwischen ist er Professor für Mathematikdidaktik an der Universität Paderborn. Zusammen mit Thomas Jahnke veröffentlichte er 2007 das Buch „PISA & Co. Kritik eines Programms.“

Könnten Sie das konkret für den mathematischen Bereich erläutern?

Ganz grundsätzlich gilt: Bei jeder nicht völlig trivialen Aufgabe gibt es stets viele Möglichkeiten, zur gewünschten Lösung, die aber nicht in jedem Fall die richtige sein muss, zu gelangen.

Also 17 plus 28 ist 45. Weitere Lösungen fallen mir nicht ein.

Der Laie denkt, in der Mathematik käme es nur auf das Resultat an. Ein Test sollte aber herausfinden, was der Schüler konkret kann. Schon bei der Aufgabe 17 plus 28 gibt es ja viele Wege, die ganz unterschiedliche Fähigkeiten anzeigen. Zählt der Schüler? Rechnet er die Zehner und die Einer einzeln zusammen? Rechnet er schrittweise, beispielsweise also 28 plus 10 plus 7. Es kann sein, dass ein Schüler hier ein falsches Resultat produziert, aber mehr verstanden hat als einer, der ein richtiges Resultat produziert. Das Konstrukt mathematische Leistungsfähigkeit, also das, was Pisa hier zu messen vorgibt, ist damit faktisch der Zufälligkeit preisgegeben.

Aber kann man die Aufgaben nicht einfach verbessern?

Ja, Sie könnten lauter wirklich scharf messende Aufgaben nutzen. Wenn Sie aber schon bei 17 plus 28 nicht mehr wissen, welche Leistung Sie gerade konkret messen, dann können Sie sich vorstellen, wie primitiv eine Aufgabe sein muss, damit sie nur einen einzigen, klar benennbaren Lösungsweg hat. Dann aber eignet sich der Test ganz sicher nicht mehr als Schulleistungstest. Denn Schule soll ja gerade geistige Vielfalt herausbilden. Das widerspricht präzisem Messen aber diametral.

Pisa wurde von der Organisation für ökonomische Zusammenarbeit, OECD, initiiert. Diese hat kaum Interesse daran, allerorten Testeritis auszulösen, ohne dass Qualitätsverbesserungen herausspringen.?

Die OECD will mit Pisa offenbar erreichen, dass die Institution Schule zukünftig in noch stärkerem Maße wirtschaftlichen Interessen zuarbeitet, als dies bisher der Fall ist. Sie soll fortan einfach nur noch brauchbares, gut gebrauchbares Menschenmaterial produzieren.

Wie soll das mittels eines Tests, an dem in Deutschland 2012 gerade mal 250 Schulen teilgenommen haben, gelingen?

Nirgendwo wurde Pisa so aggressiv vermarktet wie bei uns. Es geht darum, dieses bis dahin immer sehr geistig orientierte Land für eine gewaltige Testindustrie zu öffnen und geistige Beschränkung und Standardisierung als Fortschritt zu verkaufen.

Ist das gelungen?

Ja, man muss wirklich anerkennen, welch großartige Marketingleistung es war, 40 Regierungen dazu zu bringen, eine dreistellige Millionensumme pro Durchgang lockerzumachen für einen Test, der tatsächlich keinerlei handlungsrelevantes Wissen erzeugt. Es gibt keine einzige politische Entscheidung, die aus Pisa wirklich ableitbar wäre – auch wenn es natürlich viele solche Entscheidungen gibt, die man gern mit Pisa legitimiert.

Das hört sich so an, als ob Sie den „Pisa-Schock“ für eine Art organisierten kollektiven Irrtum hielten?

Sie als Journalisten haben hier jedenfalls kollektiv versagt. Sie haben nie die Frage gestellt: Wie viele richtige Kreuze mehr als ein deutscher Schüler hat denn so ein finnischer Schüler gemacht? Nie gefragt: Ist das denn überhaupt ein relevanter Unterschied? Kann man in 90 Minuten wirklich eine sinnvolle Aussage über ein Schulsystem generieren? Bei jeder Kreissparkassenbilanz hätte es kritischere Nachfragen gegeben.

Der Pisa-Schock hatte aber doch heilsame Wirkungen. Viele Länder haben außerdem ihr Schulsystem umgestellt.

Wenn es darum ging, das Thema Bildung in den gesellschaftlichen Fokus zu stellen, dann hätte man nach der ersten Pisa-Skandal-Runde einfach Schluss machen können mit dem Geteste. Schule hatte bereits vorher die Tendenz, die Bildungsgegenstände vom eigentlich Bildsamen zu entkleiden und das Übriggebliebene dann als „Stoff“ zu vermitteln. Statt Schule nun aber stärker dem Bildsamen zuzuwenden, statt sie lebendiger zu machen, offener für Freude an der Sache und am Verstehen, für Neugier und für wirklich sinnstiftendes Lernen, hat man sich für den entgegengesetzten Weg entschieden. Pisa forderte zu einer weiteren Verengung von Schule auf und dieser Aufforderung ist man allerorten brav gefolgt.

Macht Pisa also dümmer?

Es ist sicherlich nicht inkorrekt, diese Frage mit Ja zu beantworten.

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11 Kommentare

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  • L
    La
  • W
    Wüterich

    @Desillusionist: Aber der Weg an die Uni führt nunmal über die Schule. Wenn in der Schule systematisch verhindert und per Note, aber auch sozial ("du denkst zuviel nach, Streber, das ist doch jetzt nicht wichtig") sanktioniert wird, dass man sich auch mal Zeit nimmt, eigenständige Gedanken zu entwickeln bzw. das "Große, Ganze" verstehen möchte, woher soll man dann die Kraft nehmen, bis zum (für das Studium in unserem Bildungssystem ja fürgewöhnlich notwendigen) Schulabschluss durchzuhalten? Alle Welt klagt über "Drosselkom-Pläne", dabei sollte man mal unsere "Drosselschulen" thematisieren (wie es der obenstehenda Artikel m.E. auch in angemessener, fundierter und von mir lang herbigesehnter Form und Klarheit tut.)

  • H
    hansi

    Endlich sagt es einmal einer! Nun werden diese Pisa-Schafe aufheulen: "Ja aber Finnland?? Wir müssen doch genauso werden wie Skandinavien!!" , und all den sonstigen Blödsinn, den Marketingmenschen und unterbelichtete Kultusministerinnen für sogenannte'Lösungsansätze' halten - wobei sie nicht einmal das eingebildete Problem benennen können. Daher kommt dann auch die stupide Ein-Wort-Begründung "wegen Pisa" für sämtliche Verschlimmbesserungen im Schulsystem. Nicht unähnlich dem alles per se begründenden "wegen dem Klima". Solche Worte reichen für die Gesetzesbegründung, wer da nachrechnet oder das nachrechnen fordert, ist eben ein Ungläubiger.

  • Prof. Meyerhöfers Kritik am einzelnen Testergebnis eines einzelnen Schülers ist richtig. Die Zufallseinflüsse sind zu groß, um daraus eine definitive Aussage über dessen Lernerfolg zu ziehen.

     

    Nur sollte ein Mathematiker wissen, dass mit einer hinreichend großen Zahl an Untersuchungen Zufallseinflüsse normalerweise an Bedeutung verlieren, da sie sich teilweise gegenseitig aufheben. Daher trifft die Kritik den Pisa-Test nicht wirklich.

    • @arunto:

      Das ist aber gar nicht der Kern der Kritik von Prof. Meyerhöfer. Er kritiser - meiner Meinung nach zu Recht - das Pisa überhaupt nicht die Lösungswege oder Gedanken nachvollzieht, sondern halt aussschließlich das Ergebnis. Es ist ein bisschen wie mit der Uhr, die stehengeblieben ist. Auch diese Zeit zwei mal am Tag die richtige Uhrzeit an. Trotzdem ist eine Uhr, die einfach eine Minute nach geht, wohl nützlicher. Vielleicht haben bspws. viele deutsche Schüler strukturelle Fehler in ihren Lösungen (die dann zu einem falschen Ergebnis führen), welche aber für das Grundverständnis gar nicht so relevant sind. Nehmen wir als Beispiel die binomischen Formeln: Wenn Schüler X diese Formel sich falsch merkt und dann bei der Anwedung falsche Ergebnisse herauskommen, wird dies einfach auf falsch entschieden bei Schüler X. Kann er aber korrekt ausklammern, so ist dieser Fehler ja nicht weiter schwerwiegend, er wird ihn schließlich bemerken und das Grundverständnis ist vorhanden. Ein Schüler Y, der die Formel einfach nur richtig kennt, aber keine Kenntnisse über Ausklammern hat, hat das Ergebnis zwar richtig, ihm fehlen aber viel elementarere Kenntnisse. Oder ein Schüler Z, der sich die Formel nicht richtig gemerkt hat und auch nicht ausklammern kann. Das Problem bei Pisa ist, dass es nur einen binären Output gibt (richtig oder falsch), aber für den Grund gibt es zahlreiche Möglichkeiten, welche halt nicht gemessen und erfasst werden. Wie soll man also aus Pisa konkrete Handlungsempfehlungen ableiten können, wenn die Gründe gar nciht erfasst werden?

      • D
        Desillusionist
        @Dubiosos:

        "(...) das Pisa überhaupt nicht die Lösungswege oder Gedanken nachvollzieht, sondern halt aussschließlich das Ergebnis."

         

        Was soll denn sonst in der Schulmathematik relevant sein und bewertet werden, wenn nicht das Ergebnis? Welche Argumentationen originell sind oder einem gefallen, das ist Gegenstand der akademischen Mathematik und sollte zur Bewertung von schulischen Leistungen nicht berücksichtigt werden. Die Schule ist keine kleine Uni (das ist leider inzwischen eine beliebte Attitüde), sondern soll Menschen mit den Mindestfähigkeiten für ein Leben in dieser Welt ausstatten. Das ist schon Arbeit genug.

      • @Dubiosos:

        M.E. geht die Argumentation an den PISA-Aufgaben vorbei. Diese sind primär Textaufgaben, d.h. es muss die für eine Problemstellung aus dem Leben relevante Formel erst einmal erschlossen werden. Genau das sind Basisfähigkeiten in Mathematik. Und im Leben kommt es mitunter bei praktischen Rechenaufgaben nicht nur auf den richtigen Lösungsweg, sondern auch auf das richtige Ergebnis an.

         

        Und dann ist es - für eine hinreichend große Zahl an Schülern, die Zufallseffekte ausgleicht - durchaus relevant, wenn eine Testgruppe im Durchschnitt mehr Textaufgaben einer richtigen Lösung zuführt.

    • J
      Jay
      @arunto:

      Gerade weil er ein Mathematiker ist sollten Sie davon ausgehen, dass er mehr Ahnung von der Materie hat als Sie. Sie sollten sich von ihm belehren lassen und nicht umgekehrt.

      Ich bin auch Mathematiker und ich kann Ihnen versichern: Er hat völlig recht. Es geht nicht um statistische Abweichungen sondern darum, dass der Test prinzipiell etwas völlig Falsches misst. Da hilft es nicht, den Test so oft wie möglich zu wiederholen, das Ergebnis bleibt zufällig. Wenn Sie zum Beispiel die mathematischen Fähigkeiten eines Menschen anhand seiner Frisur messen werden Sie nach 1000facher Wiederholung auch zu keinem sinnvollen Ergebnis kommen.

      Die Pisa-Studie, wie alle Bewertungsversuche in der Bildung, überprüft letztlich immer nur die Test-Fähigkeit eines Menschen und nicht die zu testenden Fähigkeiten.

    • S
      Susanna
      @arunto:

      Es geht hier ja aber um Menschen, die sehr komplex denken können und das auch sollen, in möglichst großer Zahl. Abweichngen sollten also die Regel sein. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass ich mit Komilitonen für ein Examen gelernt habe, wobei ich mehr die Rolle einer Tutorin innehatte, also einer, die den Stoff sehr gut versteht und anwenden kann und dabei denen hilft, die sehr unsicher sind. Oft hatte ich dann am Ende ein glechwertiges oder schlechteres Prüfungsergebnis wie diejenigen, mit denen ich lernte. Denn: einen Stoff zu verstehen und dann auf jede Frage hundertprozentig richtige Antworten zu geben ist eben nicht das Gleiche und fällt oft denen leichter, die wirklich nur für die Prüfung lernen. In der Praxis hilft einem natürlich ersteres weiter.

      • @Susanna:

        Susanna, du bist einfach eine zu gute lehrerin! bei dir trifft das idealbild der lehrer*In zu, du erkärst "zu gut" und die schüler*Innen sind am schluß besser als du selber.

        ps: das * soll nicht ein coolnessfaktor sein, sondern für die menschen stehen, die weder mann noch frau sind und aufgrund zurückgehender "korrekturverstümmelungen" gleich nach der geburt in den kommenden jahren mehr und mehr werden werden.

      • @Susanna:

        Ich denke, dass man für mathematische Basisfähigkeiten (erschließen von lebensweltlichen Sachverhalten und Überführen in die passende Formel) anhand des Ergebnisses im Mittel hinreichend erkennen kann, ob die dafür nötigen Fertigkeiten erlernt worden sind.

         

        Im Beispiel des Studiums gebe ich Ihnen recht: da wäre (und leider: ist) ein Ja/Nein oder Multiple-Choice-Verfahren aus den von Ihnen genannten Gründen vollkommen unsinnig.