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Nominierte 2015

Lina Schönfeld Kämpfen auf Deutsch

In Braunschweig gibt Lina Schönfeld Flüchtlingen kostenloses Training – im Faustkampf.

Willkommenskultur leben: Lina Schönfeld hilft ihren „Schützlingen“ weit über den Boxring hinaus. Bild: Anja Weber

„Guck mal, der hängt noch viel zu hoch!”, erklärt Lina Schönfeld. Pfeifend zieht ihr Schüler Edison an langen Ketten, der Boxsack senkt sich Richtung Hallenboden, bis er in der richtigen Höhe baumelt.

Lina Schönfeld gibt in Braunschweig jeden Samstag kostenloses Boxtraining für Flüchtlinge. Ihre „Schützlinge”, wie Lina sie nennt, sind Geflüchtete aus Syrien, dem Kosovo, aus Albanien und von der Elfenbeinküste. Die 27-Jährige sorgt dafür, dass sie im Boxclub „BC 72”, in dem sie selber boxt, ihr eigenes Training absolvieren können.

Wenn sie ihren Schülern keine Hakenschläge beibringt, besucht Lina ihre Schüler in ihren Unterkünften, hilft ihnen bei Bewerbungen und spricht mit Institutionen. Geflüchteten Boxtraining zu geben bedeutet für Lina Schönfeld vor allem dies: Verantwortung zu übernehmen. „Gerade wenn Vereine sich öffnen für Flüchtlinge, kann Deutschland eine Willkommenskultur, die es ja so hoch anpreist, irgendwie auch mal leben.”

Auspowern bis an die Grenzen, Erschöpfung als Therapie

Seit sie ihr Studium abgeschlossen hat, arbeitet sie auch hauptberuflich mit Flüchtlingen, als Sozialarbeiterin. Seit fünf Jahren boxt Lina selbst, während ihres Studiums in Groningen entdeckte sie den Faustkampf für sich. Ihr Schüler Jean Coulibaly, ein junger Mann von der Elfenbeinküste, sagt: „Es gibt viele Leute hier, die sich nicht für Leute wie uns interessieren. Viele zeigen auch, dass sie Angst vor einem haben. Und sie als Frau hatte die Courage, diese Idee zu entwickeln. Das ist Integrieren und Akzeptieren.”

Im Training geht es an die Boxsäcke. Die schweren Teile fliegen hoch zu den Seiten. „Müde? Müde ist gut!”, feuert Lina ihren Schüler Shpetim an. Sie will die jungen Männer auspowern. Bis sie erschöpft und die Muskeln heiß sind, bis der Schweiß von der Stirn tropft, sie aber mit freierem Kopf nach Hause gehen.

„Mein Training soll sie richtig an ihre Grenzen bringen. Wenn sie kurz Pause machen, habe ich das Gefühl, meine Aufgabe nicht zu erfüllen.” Sich zu verausgaben im Sport kann etwas bewirken für Menschen, die für viele in Deutschland unvorstellbare Dinge erlebt haben, findet die 27-Jährige.

Zuerst boxte sie mit ehemaligen Kindersoldaten in Uganda

Die Idee für ihr Projekt kam der jungen Frau während einer Forschungsreise nach Uganda. Dort, in Gulu, einer Stadt im Norden des Landes, schrieb sie für ihr Masterstudium der Bildungswissenschaften eine Arbeit zur Reintegration von Kindersoldaten durch den Kampfsport.

„Es ging darum, wie ihnen der Sport in dem Leben hilft, welches sie jetzt führen.” In Gulu trainiert Lina selbst mit den Boxern des dortigen Vereins, die ehemalige Kindersoldaten sind – der Boxsack, er bestand aus drei zusammen gebundenen Autoreifen.

„Traumatisierte Menschen haben Symptome, mit denen sie umgehen müssen, Einschlafstörungen und Albträume zum Beispiel. Sie sagten mir, wir trainieren so hart und schwitzen so sehr, dass wir zu Hause nur noch duschen wollen und dann schlafen. Und wir können schlafen.”

Lina Schönfeld ist von dieser ungewöhnlichen Methode, die das Boxen verheißt, fasziniert. Zurück in Deutschland will sie umsetzen, was sie durch ihre Trainingspartner in Uganda lernte. Und damit den Menschen, die nach Deutschland flüchteten, helfen.

Ihren Erfolg kann sie an den Gesichtern ablesen

Aber ihre Arbeit besteht aus mehr als Sport. Sie geht mit ihren Schützlingen zum Jugendamt und spricht mit Flüchtlingsinitiativen, die sich um die Minderjährigen in ihrem Projekt kümmern. Der Vorstand ihres Boxclubs sorgte dafür, dass die lokale Braunschweiger Zeitung über dieses Boxprojekt berichtet. Danach kamen Anfragen von SozialarbeiterInnen und Ehrenamtlichen.

Der Vorstand des Vereins organisierte auch eine Halle und meinte, sie solle so viele Leute wie möglich holen, sie bräuchten nichts zu bezahlen. Seit Februar dieses Jahres gibt es nun das Boxtraining für Flüchtlinge. Anfangs kamen nur wenige, ein bis zwei Leute. Dann wurden es mehr. Einige von ihnen sind seit Anfang des Jahres in Deutschland, andere viel länger.

Dass Lina Schönfelds Idee aufgeht, kann sie nach jedem Training in den Gesichtern der jungen Boxer ablesen: „Wenn sie manchmal angespannt reinkommen, aber am Ende ein bisschen lockerer wieder rausgehen mit einem Lächeln im Gesicht, weiß ich, dass ich einen guten Job gemacht habe.” Von zwei Syrern erzählt sie, die am Anfang sehr traurig aussahen und inzwischen am fröhlichsten die Halle nach dem Training wieder verlassen. Jean ergänzt: „Es hilft mir viel in meinem Körper. Ich habe dazu gelernt, mich zu beruhigen.”

Noch nehmen nur Männer am Training teil. Das soll sich ändern!

Nicht nur ablenken will die Sozialarbeiterin ihre Boxer, sondern eine Struktur in der Woche schaffen: „Das ist für sie ein Rhythmus, der stattfindet. Jemand, der nur unregelmäßige Verabredungen hat, kann keinen richtigen Alltag für sich aufbauen.“

Ihr nächstes Ziel: auch geflüchtete Frauen fürs Boxen zu begeistern. „Das Projekt war nie nur für Männer gedacht. Vielleicht ist es aber für Frauen aus anderen Kulturen angenehmer, ein separates Training zu haben.” Deshalb will sie eine Gruppe für Frauen aufbauen, „damit sie sich vielleicht eher zum Training trauen.“

Das Drumherum ist genauso wichtig

In der kleinen Sporthalle steht die Gruppe in einer kurzen Pause zusammen. Lina Schönfeld erinnert an den anstehenden Grillabend des Boxclubs. Wer kommt, wer kommt nicht? Das Grillfest fällt in die Zeit, wenn noch Ramadan ist. Es ärgert Lina ein wenig, dass sie und andere im Verein daran nicht gedacht haben. „Da müssen eben auch Deutsche anfangen umzudenken und solche Dinge zu beachten”, findet sie.

Mit in der Runde steht Alan Kantemirov. Sie holte ihn vor einer Weile aus ihrem Boxclub als Co-Trainer dazu. Anerkennend sagt er: „Ich gebe nur das Training. Und sie macht alles Drumherum. Lina versucht nicht nur sportlich zu helfen, sondern viele andere Probleme zu erledigen.“ Dieses „Drumherum“ neben dem Boxtraining ist Lina wichtig. Sie will ihren Schülern Barrieren, die durch den Status als Geflüchtete entstehen, nehmen – und ihnen ermöglichen, dass sie sie bald selbst zu überwinden wissen.

In Braunschweig befindet sich eine Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge. Die Geflüchteten werden von hier aus über die Region verteilt, aber nicht in der Stadt selbst untergebracht. Deshalb wohnen alle in kleinen Orten in der Umgebung. Die Fahrten in die Stadt sind für die Boxer teuer. Daher organisierte Lina Schönfeld einen Fahrdienst. Finanziert durch Spendengelder, werden die jungen Männer an ihrer Unterkünften abgeholt und wieder zurückgebracht.

Selbstbewusstsein und Sicherheit gegen Alltagsrassismus

Lina Schönfeld weiß, dass es nicht ausreicht, nur gespendete neuverpackte Sportklamotten und Ausflüge zu Boxkämpfen in Berlin und Wolfenbüttel zu organisieren. Das „Drumherum” heißt für sie, ihren Boxern zu helfen, sich hier ein Leben aufzubauen, voranzukommen. Mit MitarbeiterInnen der Unterkünfte und Initiativen zu sprechen, bei Bewerbungen zu helfen.

Wie bei Edison, den Lina in seiner Wohnung im nahe gelegenen Peine besucht. Kaum sitzt die junge Frau auf der Couch, streckt er ihr stolz ein Zertifikat von einer Fortbildung entgegen. Sie klatschen ab. Dann rät sie ihm, gleich eine Kopie davon seiner Bewerbung für eine Ausbildung beizulegen. Edison, 18 Jahre, der aus Albanien nach Deutschland kam, geht dreimal die Woche zum Training. Auch um sein Deutsch zu verbessern: „Wenn man auf Deutsch trainiert, dann lernt man das mehr”, erklärt er.

Die Sozialarbeiterin Schönfeld erntet auch viel Kritik für das Projekt, erzählt sie, „bis hin zu ganz rassistischen Sprüchen“. Jeden Montag geht sie selbst zu den Demos gegen Bragida, dem Braunschweiger Ableger von Pegida. Davon abgesehen: Ihr Boxtraining hilft „ihren“ jungen Männern auch gegen möglichen Alltagsrassismus. „Boxen ist nicht unbedingt ein Selbstverteidigungssport. Aber er gibt sehr viel Selbstvertrauen. Darüberzustehen, wenn man angegriffen wird, verbal oder sonstwie, selbstbewusst durch die Gegend gehen.”

Der Fahrservice kommt, Edison läuft schon einmal vor zu Lina Schönfelds Auto. Ihn setzt sie immer selbst am Bahnhof ab.

MARION BERGERMANN, Jahrgang 1988, lebt und studiert in Berlin und war 2015 taz.lab Redakteurin.