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Kommentar „Charlie-Hebdo“-TitelDie Träne des Propheten

Deniz Yücel
Kommentar von Deniz Yücel

Man kann es kaum erahnen, welch unmenschlicher Druck auf den überlebenden Mitarbeitern der neuen „Charlie Hebdo“-Ausgabe gelastet haben muss.

Die eigentliche Pointe, das Menschliche: Wir trauern. Bild: Luz/Ausschnitt des Titels von „CharlieHebdo“

M an muss die Situation, einen Nachruf auf einen Freund zu schreiben oder auf einer Trauerfeier eine Rede zu halten, nicht schon selber erlebt haben, um zu erahnen, welch schier unmenschlicher Druck auf den überlebenden Mitarbeitern von Charlie Hebdo gelastet haben muss: Nach einem solch schrecklichen Anschlag auf ihre Redaktion, bei dem ihre Freunde ermordet wurden, mit dem ihre Zeitschrift ausgelöscht werden sollte und dem sie selber womöglich nur durch Zufall entronnen sind, den Titel der nächsten Ausgabe zu zeichnen.

Einer Ausgabe, von der nicht wie sonst 60.000, sondern drei Million Exemplare gedruckt werden, und auf die die Welt schauen würde. Und sie mussten nicht bloß schreiben oder reden. Sie mussten zeichnen. Komisch sein. Eine Pointe liefern.

Was für eine schreckliche Aufgabe! Und was für eine überwältigend schönes, rührendes und komisches Ergebnis! Große Kunst unter den schwierigsten Bedingungen gezeichnet. Eine Zeichnung, dies zu sagen, ist man zumindest im Augenblick geneigt, die in eine Reihe gehört mit den Revolutionsgemälden von Delacroix und da Volpedo und ähnlichen Werken der Zivilisationsgeschichte der Menschheit. Und die einmal mehr vor Augen führt, was die Mohammed-Karikaturen, die „umstritten“ zu nennen man sich angewöhnt hat, von Charlie Hebdo von denen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten in Haltung und Handwerk unterschieden hat und warum − die auch von Linken und Linksliberalen − an die Adresse von Charlie Hebdo erhobenen Vorwürfe von Rassismus und Islamophobie schon immer Unfug waren.

Das Kämpferische: Nein, wir lassen uns nicht einschüchtern, trotz alledem. Das Politische: Nein, wir setzen über eine Milliarde Muslime nicht mit den Islamfaschisten gleich. Nein, wir liefern kein Poster für Rassisten. Das Publizistische: Ja, wir machen uns über die lustig, die uns vorwerfen, wir seien verantwortungslos und – nun das Verspielte, Selbstironische – zitieren uns selbst. Das Versöhnliche: Wir schreiben „Alles ist vergeben“ und lassen dabei alles offen. (In dieser Mehrdeutigkeit auch das Künstlerische: Haben wir den Mördern vergeben oder hat Gott ihnen vergeben, weil wir das nicht können? Haben wir dem Islam vergeben oder er uns?)

Dann das Satirische: Wir greifen #JeSuisCharlie auf und treiben es auf die Spitze. Und, die eigentliche Pointe, das Menschliche, das Zärtliche: Wir trauern. Die Träne. Die Träne von Angehörigen, Freunden und Kollegen. Die Träne von Millionen Menschen. Die Träne des Propheten.

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Deniz Yücel
Kolumnist (ehem.)
Von Juli 2007 bis April 2015 bei der taz. Autor und Besonderer Redakteur für Aufgaben (Sonderprojekte, Seite Eins u.a.). Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik 2011. „Journalist des Jahres“ (Sonderpreis) 2014 mit „Hate Poetry“. Autor des Buches „Taksim ist überall“ (Edition Nautilus, 2014). Wechselte danach zur Tageszeitung Die Welt.
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19 Kommentare

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  • @KarlM "Spott über Mythen und Wahnvorstellungen, im obsoleten § 166 noch rücksichtsvoll aber falsch "Bekenntnis" genannt, ist jederzeit legitim."

     

    Sofern Sie im Besitz der Einzigen, Absoluten und Unbezweifelbaren Wahrheit sind, sicher. Nichtgötter sind in ihrer Erkenntnisfähigkeit - insbesondere was die grundlegenden Fragen nach Ursprung und Sinn des Lebens selbst betrifft - aber doch eher begrenzt.

     

    Für Normalsterbliche gilt, daß Meinungsfreiheit zwei Seiten hat: das Recht die eigene Meinung zu äußern und der Respekt vor dem, der eine andere Meinung hat. Es hat mit Menschenwürde zu tun, es hat mit Ethik und Toleranz zu tun, nicht den religiösen Glauben Anderer zu verspotten.

     

    Die eigene Freiheit endet dort, wo sie Andere in ihrer Freiheit oder persönlichen Würde einschränkt.

    • @h4364r:

      "Die eigene Freiheit endet dort, wo sie Andere in ihrer Freiheit oder persönlichen Würde einschränkt."

       

      Damit wäre dann praktisch jede Karikatur von Personen verboten ...

  • "Große Kunst unter den schwierigsten Bedingungen gezeichnet."

    si Vous le dites...

  • "Nein, wir setzen über eine Milliarde Muslime nicht mit den Islamfaschisten gleich"

     

    Das sollte man sicherlich nicht, Herr Yücel. man sollte aber auch nicht den "Islam" für faschistischen Ismalismus verantwortlich machen, wie sie es vor ein paar Tagen noch im Zusammenhang mit den Anschlägen gemacht haben:

    "Genauso unerträglich ist die Formel, die Morde von Paris hätten nichts mit dem Islam zu tun, die nun allenthalben bemüht wird, ob nun aus Furcht vor einem Aufflackern des Rassismus oder aus weniger ehrenhaften Gründen. Es ist Blödsinn. Denn den Islam gibt es nicht, der Islam ist die Summe dessen, was diejenigen, die sich auf ihn berufen, daraus machen." (http://taz.de/Kommentar-Je-suis-Charlie-Hebdo/!152463/)

  • Wahrscheinlich wäre die Zeit gekommen die Blickwinkel zu ändern...und über die Reaktion der Türkei auch.

    Ich glaube, die Europäer in allgemein können die Muslime nicht verstehen, weil wir von der Religion Abschied genommen haben.Unsere Werte-Verständnis ist inzwischen sehr limitiert...Regel existieren so gut wie nicht mehr,und jeder tut was er will.

     

    ..ich bin in muslimische Länder gereist und gemerkt, dass die Muslime in allgemein viel religiöser sind als wir Europäer, und daher empfindlicher reagieren wenn man ihre religiöse Gefühle absichtlich beleidigt. Und da liegt der Unterschied, die europäische Christen glauben weder an der Hölle noch am Paradies, oder am Gott...die meisten Muslime, nehmen ihre Religion ernst und sie glauben noch daran.

     

    Und das ist das Problem...

    Ein Blogger sagte:Das Dauerbeleidigt sein, muss diesen Leutchen abtrainiert werden...der Blogger irrt sich gewaltig...sie sind nicht beleidigt sie sind empört. Der bekannte Journalist Robert Fisk sagte sehr richtig...die Muslime wollen von uns respektiert werden...stattdessen werden von uns dauern und absichtlich beleidigt.

     

    Viele Blogger kritisieren die Türkei und meinen man soll das Land nicht in der EU aufnehmen. Ich bin der gleiche Meinung, für die Türkei ist besser Europa fern zu bleiben und so frei sein. Ich war 45 Tagen in der Türkei unterwegs und fand immer hilfsbereite Menschen, was Erdogan angeht, Politiker kommen und gehen, das Volk bleibt und ich kann über die Türken nur Gutes erzählen. Klar in jedem Land gibt Gauner, bei uns auch oder?

     

    mundderwahrheit

  • @ Sizlilaner

     

    Ob nun Faschismus oder religiöser Fundamentalismus ist mir herzlich egal. Ich lehne beides ab, da es nur totalitär forciert wird.

    • @Stechmücke:

      Hallo Oberflächenspanner,

       

      ich gratuliere Ihnen, das Sie es offenbar geschafft haben, eine politische Haltung zu etwas zu entwickeln.

      • @Der Sizilianer:

        Dankeschön

  • Ich interpretiere ganz anders. Die Träne ist die der Moslems, derer, die latent oder nichts tuend dem Islamismus beipflichteten, ihn zuließen, es aber nicht geschafft haben, es verpassten, sich klar zu distanzieren und jetzt ermuntert sind und das Sprüchlein " Je suis...." ernüchert tragen. Es ist ein Aufruf, ein Wunsch an die Moslems, untereinander klare Verhältnisse zu schaffen.

    Herr Yücel, so weich gespült, wie Sie es erkennen wollten, wäre es nicht Ch. Hebdo

    • @lions:

      "Wir trauern. Die Träne. Die Träne von Angehörigen, Freunden und Kollegen. Die Träne von Millionen Menschen. Die Träne des Propheten."

       

      Biard betonte: "Es wird keine Trauerausgabe geben. "

       

      Richtig so, volle Kraft voraus !

  • Warum darf man, nur weil sie sich nach aussen hin "Links" zeigen, nicht den jenigen Rassismus, Sexismus und Islamophobie vorwerfen?

    Und warum soll man alles was unter dem Namen Satire hervorgebracht wird, auch als Satire an- oder besser gesagt hinnehmen?

     

    «Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: 'Ich bin der Faschismus.' Nein, er wird sagen: 'Ich bin der Antifaschismus.»

    - Ignazio Silone

    • @errol flynn:

      Weil Satire alles darf?

       

      Silone hat sich etwas geirrt, es muss: " Ich bin der Religionsfaschismus" heißen.

       

      Spott über Mythen und Wahnvorstellungen, im obsoleten § 166 noch rücksichtsvoll aber falsch "Bekenntnis" genannt, ist jederzeit legitim.

      • @KarlM:

        Wer bestimmt denn was Satire ist?

         

        Kann sein das sich der Herr Silone geirrt hat, ich nehme ihre Meinung gerne zur Kenntniss. Nur ist Faschismus nun mal Faschismus, ob's im Namen der Religion, der Nation oder jeglicher anderer Ideologie gilt.

        Ihr Behagen aber auf den Islamfaschismus deutet indirekt darauf, dass sie den Faschismus als gesamtes ausblenden.

        • @errol flynn:

          Abendlandfaschismus

        • @errol flynn:

          Religiöser Fundamentalismus ist kein Faschismus.

           

          Faschismus ist kein religiöser Fundamentalismus.

           

          Auch wenn ich Herrn Yücels Kommentare in der Regel sehr schätze: Das Gerede vom "Islamfaschismus" ist in meinen Augen grober Unfug, der in die Irre führt.

           

          Um nur einen wesentlichen Unterschied zu nennen: Das Staatsideal des religiösen Fundamentalismus ist die Theokratie. Das Staatsideal des Faschismus ist die völkisch-nationalistische Blutgemeinschaft.

          • @Der Sizilianer:

            Lieber Herr Sizilianer,

             

            ich denke werde Herr Yücel noch viele seiner Leser, wären damit nicht so einverstanden, wenn sie sein "Gerede" als groben Unfug bezeichnen, wo er doch sehr genau seiner Wortwahl bedacht und bewusst ist, und auch die Auswahl aus seinem Wortschatz immer wieder zum erstaunen bringt.

             

            Ferner mag ich ihnen empfehlen, ohne ihnen nahe treten zu wollen, den Begriff Faschismus, der etymologisch vom lateinschen Wort fasces ins italienische als fasci, im singular fascio, übernommen wurde, nochmal ausgiebig zu recherchieren.

             

            In wie fern dann verschiedene Herrschaftsformen, mitunter die von ihnen erwähnte Theokratie als Staatsideal, oder aber auch die völkisch-nationalistische (Blut)gemeinschaft, als faschistische Staatsformen man bezeichnen darf, erklärt sich danach von selbst.

            • @errol flynn:

              Hallo Errol Flynn,

               

              ich schätze Herrn Yücel als entschiedenen Aufklärer – und als jemand, der dem Gebrauch „starker“ Begriffe in seiner Wortwahl selbst hier und da nicht abgeneigt ist. Und bei allem, was mir auch an diesem Kommentar hier gut gefällt – Begrifflichkeiten wie „Islamfaschismus“ sind und bleiben in meinen Augen ahistorischer, kontraproduktiver Unfug. Unter anderem, weil der Faschismus keine Theokratie anstrebt.

               

              Schön, das Ihnen die Etymologie von „Faschismus“ geläufig ist. Ein treffendes Gegenargument kann ich darin nur leider nicht erkennen. Melden Sie sich doch bitte gerne wieder bei mir, wenn Sie eins gefunden haben. Danke.

              • @Der Sizilianer:

                Guten Tag Herr Sizilianer,

                gerne melde ich mich bei ihnen zurück.

                 

                Allerdings nicht weil ich ein Gegenargument ihnen mitteilen möchte, sondern im Gesamten ihres Standpunktes leider erkenne, dass Sie sich dem Begriff des Faschismus, seinen präzisierten Unterbegriffen, und seiner Deutung wie er in der Politologie gebraucht wird, leider wiedersetzen. Davon abgesehen wollte ich auch gar kein Gegenargument treffen, sondern ihnen den Ratschlag geben nochmal nachzuschauen was die Bedeutung des Begriffs inne hat.

                Ob dies einen Inhalt einer Argumentation hat, liegt dann in ihrer Ansichtsweise. Welches ja dann doch schlussfolgert, dass Sie es zwar verstehen, aber nicht verstehen wollen.

                 

                Auch dass Sie den Begriff des Islamfaschismus als ahistorisch sehen, ist so nicht stehen zu lassen und auch kein Argument ihn nicht zu benutzen. Historie war war auch mal Gegenwart, und wie fatal wäre es, wenn man Anno auch nur zurückgeblickt und neue Begriffe, mit dem Hinweis sie wären ahistorisch, nicht zugelassen hätte.

                Ganz abgesehen davon das ich es eher kontraproduktiv finde, faschistoide Bewegungen als theologische zu interpretieren, nur weil diese sich für ihren Faschismus der Theologie bemächtigen. Denn diese zieht all die jenigen, die ihren spirituellen Einklang aus der jeweiligen theologischen Lehre heraus holen und demokratisch sind, mit hinein. Und das darf es nicht und hoffe aber auch, dass dies nicht ihre Absicht ist!

                 

                Hierüber hinaus bringt es die Konversation leider auch nicht weiter, dass Sie meine Hinweise auf etymologische Herkünfte des Begriffes, auf meine Geläufigkeit beziehen und dieses schön finden.

                So gibt es doch schönere Dinge im Leben. Auch für Sie lieber Herr Sizilianer, auch für Sie.

                 

                Danke zurück.

                • @errol flynn:

                  Hallo Errol Flynn,

                   

                  bitte entschuldigen Sie die späte Rückmeldung.

                   

                  Begriffe wie "Islamfaschismus", "islamistischer Faschismus" etc. sind in meinen Augen pure Kampfbegriffe, die nichts erklären. Wer mit solchen Begriffen hantiert, zeigt m. E. überdeutlich, dass eine fundamentale Auseinandersetzung mit dem Faschismusbegriff fehlt. Wir werden die zahlreichen Probleme, die religiöse Fundamentalismen der Menschheit im 21. Jahrhundert bereiten, nicht lösen, wenn wir schon in der Problemanalyse auf eine falsche Fährte geraten. Und genau das tun wir, wenn wir in diesem Zusammenhang mit dem Faschismusbegriff operieren.

                   

                  Der Islam ist eine Religion, die im frühen 7. Jahrhundert im arabischen Raum gestiftet wurde. Der Faschismus ist eine Ideologie, die im 19. und 20. Jahrhundert im europäischen Raum entstand. Schon deswegen sind Begriffskonstruktionen wie „Islamfaschismus“ als ahistorisch zu bezeichnen.

                   

                  Aber Sie haben mich neugierig gemacht: Was genau ist denn Ihrer Ansicht nach am Islam "faschistisch"? Gibt es in Ihrem Weltbild auch einen "Christofaschismus" oder einen "Judäofaschismus"? Ist das Königreich Saudi-Arabien in Ihren Augen etwa eine faschistische Diktatur? Sind evangelikale Christ_innen oder fanatische jüdische Siedler_innen Protofaschis_innen?

                   

                  Oder wollen vielleicht lieber SIE nochmal nachschauen, was es mit der näheren Bedeutung des Faschismusbegriffs auf sich hat?