Kolumne Logbuch: Freilaufende Hormone
Amouröse Abenteuer gab es kaum an Bord des Peace Boats. Doch kaum war die lateinamerikanische Küste in Sicht, war plötzlich alles anders.
„Er ist es!“ Beim Mittagessen setzt sich Mikori plötzlich kerzengerade auf. Ehe wir uns versehen, schwankt sie auf einen gutaussehenden jungen Mann zu, der verlegen lächelnd in der Ecke sitzt – wie alle Jugendlichen in dem Kulturzentrum, das wir gerade besuchen.
Wir sind erst vor drei Stunden an Land gegangen und sie war nie zuvor hier, in dieser als gefährlich geltenden Vorstadt von Lima mitten in der Wüste. Unmöglich, dass sie diesen Mann kennt.
Wir anderen grinsen uns zu. Schon wieder so eine Fata Morgana. Auf dem Schiff kommt jeden zweiten Tag jemand mit Flamenco-Bewegungen auf mich zu, weil er mich mit der Spanierin an Bord verwechselt.
Doch sie hat Recht. Er ist es. Mikori hat Javier vor einer Woche in Valparaíso kennengelernt, ein paar Tausend Kilometer südlich von hier. Sie hatten nur wenige Stunden und ein paar gemeinsame Worte auf Englisch. Doch das reichte.
Christina Felschen berichtet derzeit als Journalistin vom Bord des Kreuzfahrtschiffes „Ocean Dream". Sie nimmt dort teil an der von der japanischen Nichtregierungsorganisation „Peace Boat“ organisierten 78. Friedensfahrt einmal rund um den Globus. Am 14. Dezember 2012 hieß es „Leinen los!“ in Yokohama. Am 23. März 2013 wird das Kreuzfahrtschiff in Japan zurückerwartet. Christina Felschen wird alle 14 Tagen in ihrer „Kolumne Logbuch“ auf taz.de berichten, wie es mit dem schwimmenden Dorf weitergeht.
Auf verschlungenen Wegen – mit nichts als einem Überlandbus, ihrem Vornamen und sehr viel Spürsinn – gelangte er zum richtigen Zeitpunkt in das richtige Haus.
Mikori strahlt, ich habe sie nie zuvor so gesehen. Und nie wieder. Denn Javier, der sich endlich am Ziel wähnt, bleibt nicht lange. Seine unangemeldete, ganz und gar unjapanische Odyssee ist den Organisatoren suspekt, amouröse Abenteuer bringen ihren Plan durcheinander. Er wird weggeschickt.
Keine Mücken an Bord
Die Geschichten der Entdeckungsreisenden sind voller Schweiß und Staub, Gefahren und Liebschaften – und noch jeder Backpacker kann davon erzählen. Doch diese Fahrt versucht ohne all das auszukommen. Angenehm zu sein, indem sie aseptisch ist. Es gibt keine Tiere an Bord, nicht einmal Mücken. Keine Kinder.
Und es gibt keine Romantik. Mehrere Beziehungen gehabt zu haben, gilt in Japan als unanständig, habe ich mittlerweile gelernt. Die Dolmetscherinnen übersetzen Geschlechtsverkehr gerne mit „Treffen“ und die Jüngste im Team hat aus „Vergewaltigung“ zum allgemeinen Entsetzen mehrmals „Beziehung ohne eheliches Verhältnis” gemacht.
Das einzige Pärchen, das sich in der Öffentlichkeit küsst oder auch nur Händchen hält, ist russisch-amerikanisch. Fast alle jungen Paare verzichten auf eine Zweierkabine und schlafen getrennt in günstigeren Vierbettzimmern. Und viele ältere Passagiere haben ihren Partner zuhause gelassen. Einer muss ja das Geld verdienen.
Eng umschlungen auf dem Schiff
Doch als wir die lateinamerikanische Küste erreichen, gerät diese klösterliche Ordnung ins Wanken – als hätte jemand alle Hormone dieses Schiffes aufeinander losgelassen. Die Teenager flanieren eng umschlungen in immer neuen Konstellationen über die Flure, die Englischlehrer spielen mitternachts Wahrheit oder Pflicht und ich sehe meine 84-jährige Japanischlehrerin flüsternd mal mit diesem, mal mit jenem Herrn im Restaurant.
In Polynesien doziert unser Gastredner eine Stunde lang über die Phallushaftigkeit der Moai-Statuen und wirbelt schließlich im Lendenschurz auf die Bühne, gefolgt von Tänzerinnen in Federbikinis.
Die bisher erschienen Logbuch-Kolumnen vom Bord des „Peace Boats“ sind:
21.01.2013: „Gambare! Gib dein Bestes“
02.02.2013: Ein Ring fürs Dach der Welt
16.02.2013: Japanisch für Anfänger
26.02.2013: Verbotene Wege
Als Schiffsfotografin hocke ich ganz vorne und frage mich ernsthaft, ob ich überhaupt fotografieren kann, ohne voyeuristisch zu werden. Die gesamte erste Reihe hat ihre Teleobjektive ausgefahren, weiter hinten pressen Männer Ferngläser an die Augen. Da streckt sich eine bemalte Hand nach mir aus und schon stehe ich selbst auf der Bühne.
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