Koalitionsvertrag: Berlin bleibt doch Berlin
Am Montag haben SPD und CDU über den Koalitionsvertrag abgestimmt. Was steht da eigentlich drin?
Soziales: Schöne Versprechungen
Tun wir mal so, als mündeten Formulierungen wie "soll perspektivisch" oder "die Koalition strebt an" in tatsächlichen Veränderungen. Dann wäre es um das soziale Berlin nicht schlecht bestellt: Stadtteilzentren eröffnen in jeder Region, Kitas werden zu Familienzentren, es gibt mehr Geld für Schuldnerberatungsstellen, der RBB sendet in Gebärdensprache, in der Kranken- und Altenpflege gibt es mehr Ausbildungsplätze und in den Jobcentern künftig SozialpädagogInnen, kein Jugendlicher ist ohne Ausbildung, doppelt so viele Langzeitarbeitslose bekommen öffentlich geförderte Jobs, die Kinderschutz-Hotline berät mehrsprachig, und Inklusion als Teilhaberecht von Menschen mit Behinderungen wird zum "Leitgedanken der Sozialpolitik".
So weit, so schön. Kein Wort aber dazu, ob das Prinzip existenzsichernder Arbeit auch für die öffentlich geförderte Arbeit gelten soll. Außerdem scheint die seit Langem angemahnte Erhöhung der Hartz-IV-Mietzuschüsse vom Tisch. Stattdessen sollen durch "qualifizierte Prüfung" Kosten gesenkt werden. Besonders peinlich für die CDU: Vor der Wahl hatte sie die Auslagerung der Familienpolitik in den Familienbeirat als zahnlosen Tiger kritisiert und wollte den Bildungssenator zum Familiensenator machen.
Den kompletten Entwurf für den Koalitionsvertrag haben SPD und CDU im Internet zum Download veröffentlicht.
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Stattdessen heißt es nun in der Koalitionsvereinbarung: Die erfolgreiche Arbeit des Berliner Beirats für Familienfragen solle "in der bewährten Struktur" fortgesetzt werden. Koalition, bewahre! MAH
Inneres: Feindbild Linksextreme
Wo, wenn nicht bei ihrem Leib-und-Magen-Thema Innenpolitik, sollte die CDU punkten? Das hat sie getan. Das Alkoholverbot im Nahverkehr soll "durchgesetzt" werden. Die Zahl der Polizisten wird um 250 auf 16.410 erhöht. Bei Präventionsaufgaben der Polizei dürfen künftig auch "ehrenamtlich tätige Bürger" helfen. Der Unterbindungsgewahrsam wird von zwei auf vier Tage verlängert - "um potentielle Gewalttäter besser von Versammlungen abhalten zu können". Wann jemand demonstrieren will und wann nur randalieren, entscheiden dann Polizei und Justiz.
Am augenfälligsten wird der innenpolitische Wechsel beim Thema Extremismus: Widmete Rot-Rot 2006 in seinem Vertrag der Bekämpfung des Rechtsextremismus noch satte zwei Seiten, reicht diesmal ein einziger Absatz: Das Landesprogramm gegen rechts werde fortgesetzt, ein NPD-Verbot angestrebt. Ausschweifender geht es nun um den Kampf gegen Linksextremismus. In Schulen soll mehr über Autonome aufgeklärt, linke Gewalt besser erforscht, "ggf. ein Programm gegen Linksextremismus entwickelt" werden. Angesichts der jüngst aufgedeckten Neonazi-Mordserie vielleicht kein wirklich glückliches Timing.
Immerhin: Zwei große, rot-rote Pflöcke bleiben. Die Deeskalationsstrategie auf Demos. Und die Kennzeichnung von Polizisten, wenn auch mit rotierenden Nummern - Letzteres auf den eindringlichsten Wunsch der CDU. KO
Bildung: Bewährtes bewahren
Der Schulfrieden kommt wirklich: Rot-Schwarz strebt keine weiteren Schulreformen an. Auch die CDU-Idee, Lehrkräfte wieder zu verbeamten, ist vom Tisch. Es bleibt bei drei beitragsfreien Kitajahren.
Neu ist: Die Bedarfsprüfung für einen Ganztagesplatz in der Kita für 3- bis 6-Jährige soll abgeschafft werden. Außerdem sollen Grundschulen Funktionsstellen besetzen dürfen, was bedeutet: Lehrkräfte mit mehr Verantwortung bekommen auch mehr Geld. Schulen sollen mehr Eigenverantwortung übernehmen, etwa mit einem eigenen Budget für schulinterne Fortbildung, außerdem sollen die Aufgaben der Sekretariate neu formuliert werden.
Über das jahrgangsübergreifende Lernen (JÜL) an Grundschulen soll künftig allein die Schule entscheiden, ebenso darüber, ob Deutsch Pflichtsprache auf dem Pausenhof wird. Dafür soll endlich mit einer Schulpflicht für Kinder ohne sicheren Aufenthaltsstatus die UN-Konvention für Kinderrechte auch in Berlin gelten.
Zudem überlegt die Koalition, Abschiebehaft gegen eine preiswertere Variante zu ersetzen. Ansonsten gilt auch beim Thema Integration: alles wie immer. Die Residenzpflichtlockerung für Flüchtlinge bleibt, "Begrüßungsbüros" in den Bezirken sollen kommen. Fazit: Wer die Sätze "Berlin ist eine Einwanderungsstadt" und "Muslime gehören zu uns" noch für up to date hält, wird auch am Integrationskapitel des Koalitionsvertrag seine Freude haben. AWI
Partizipation: Mehr Politik im Netz
2011 war geprägt von Wutbürgern allerorts. Das ist auch bei Rot-Schwarz angekommen. "Die Ansprüche an demokratische Partizipation haben sich verändert", notiert ihr Vertrag. Nun soll künftig ein Onlineportal Bebauungspläne für alle mitbestimmbar machen. Dort dürfen "Stellungnahmen eingereicht und Abstimmung durchgeführt" werden. Bei Großprojekten soll besser "über Internet, Flugblätter, Postwurfsendungen, Anzeigen" informiert werden. Und Meldedaten darf der Berliner bald auch online übermitteln. Das wars aber auch.
Denn bei der Frage der Absenkung des Wahlalters hört die Partizipation schon auf: Die "Koalitionsparteien" hätten "unterschiedliche Auffassungen", ob auch 16-Jährige das Abgeordnetenhaus wählen dürfen, heißt es. Abgestimmt werde in dieser Frage aber "nur einvernehmlich". Die CDU ist dagegen, also bleibts.
Versucht wird sich auch am zweiten Publikumsliebling des Jahres, der Transparenz (Stichwort: Wasservolksbegehren, Piraten). Unternehmen, die dauerhaft persönliche Daten erfassen, sollen den Betroffenen jährlich einen "Datenbrief" über ihre Sammlung schicken. Bei Datenschutzpannen werden Berliner Behörden zu einer "Informationspflicht" an die Betroffenen verpflichtet. Öffentliche Daten sollen mittels einer "Open-Data-Initiative" "weitgehend" offengelegt werden. Und: Ein "freies und gebührenfreies WLAN an zentralen Orten der Stadt" soll kommen. Das freilich scheiterte schon in der letzten Legislatur. KO
Stadt: Mieter sehen schwarz
Im Bereich Stadtentwicklung führt Rot-Schwarz die Politik des alten Senats in weiten Teilen fort. So bleibt der Kündigungsschutz bei Umwandlungen weiterhin sieben Jahre bestehen - ein Erfolg der SPD. Auch das Quartiersmanagement wird fortgesetzt.
Neu dagegen ist der geplante Bau von 30.000 neuen Wohnungen. Hier soll noch geprüft werden, inwieweit private Investoren zum Zuge kommen, wie es die CDU wünscht.
Einen Prüfauftrag gibt es in Sachen Zweckentfremdung. Geklärt werden soll, ob nur ein Verbot die Umwandlung von Miet- in Ferienwohnungen stoppen kann. Die CDU ist gegen dieses Verbot.
In der Stadtentwicklung hat Rot-Schwarz die Zukunft des Rathausforums vertagt. Nun soll ein städtebaulicher Wettbewerb klären, ob auf dem Grundriss der Berliner Altstadt neu gebaut oder der Freiraum weiterentwickelt wird.
Eng könnte es für die Tempelhofer Freiheit werden, das große unbebaute Areal des Exflughafens. Hier soll ein Masterplan die Voraussetzung schaffen "für die Bildung von Wirtschaftsclustern und die Schaffung von verbindlichem Baurecht".
Eine Änderung will Rot-Schwarz auch am Denkmalschutz erzwingen. Künftig soll es einfacher werden, denkmalgeschützte Gebäude energetisch zu sanieren - das Bild der Stadt könnte sich also ändern.
Fazit: Nichts gegen ein "Weiter so". Nur bei der rasanten Mietenentwicklung, die der rot-rote Senat so lange ignoriert hat, hätten die Daumenschrauben für Eigentümer deutlich angezogen werden müssen. Berlins Mieterinnen und Mietern stehen mit Rot-Schwarz schwarze Zeiten bevor. WERA
Verkehr: Erst mal in Ruhe prüfen
Im Wahlkampf war die A 100 beim Thema Verkehr als Zankapfel völlig überfrachtet. Beim Betrachten des Koalitionsvertrags zeigt sich: Das dürfte im Sinne der künftigen Verantwortungsträger gewesen sein. Denn außer dem Ja zu 3,2 Kilometern Asphalt haben sie fast nichts Konkretes zu bieten. Erwähnt wird zwar, dass mit dem Autobahnbau wie versprochen Straßen in der Innenstadt zugunsten von Bussen und Fahrrädern umgebaut werden sollen - allerdings erfolgten diese Maßnahmen zeitgleich mit dem Bau, und das kann dauern.
Zur S-Bahn heißt es: Wir "gehen die Probleme mit der S-Bahn entschlossen an". Das hat auch die scheidende Senatorin Ingeborg Junge-Reyer jahrelang verkündet. Gleichwohl reiht sich ein Chaos an das nächste. Ähnlich innovativ lesen sich die Pläne für das U-Bahn-Netz: Es soll "in seinem Bestand gesichert" werden. Neue Projekte werden allenfalls geprüft - etwa die Verlängerung der U7 von Rudow zum Flughafen BER. Überhaupt, der Flughafen: Schwarz auf weiß bestätigen die Koalitionäre die Befürchtungen von Antilärmdemonstranten. Unter der Vorgabe, dass in Schönefeld internationales Drehkreuz werden soll, würden die Belastungen für Anwohner so gering wie möglich gehalten. Nicht andersherum. Auch die Müggelseeroute wird erwähnt. SPD und CDU wollen sie - wie könnte es anders sein - auf Alternativen hin prüfen. PEZ
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