Kinostart von „The Master“: Frische Zellen für den Patriarchen
Deformierte Männerkörper und beseelte Maniacs: Paul Thomas Andersons „The Master“ reist in die USA nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die USA nach dem Zweiten Weltkrieg: Zeit großer sexueller Spannungen und Entladungen, Zeit entschieden gesteigerter Lust und massiv verbesserter Instrumente der Kontrolle, der Vorhersage, der Steuerung, der Unterdrückung – McCarthy, Wilhelm Reich, Masters & Johnson, Kybernetik, Lügendetektoren und der Beginn der großen Bereitschaft, über Sex zu reden.
Hier begegnen wir nun einem Kriegsheimkehrer, dessen Körper sich jeder Kontrolle entzieht und von seiner Sexualität dramatisch durchzuckt wird wie galvanisierte Froschschenkel: Joaquín Phoenix. Der wiederum trifft auf einen beleibt-behäbigen, bigotten Guru (Philip Seymour Hoffman) mit einem Charisma, das pseudowissenschaftlichen Propheten damals gern zugestanden wurde. Beide haben nicht viel gemeinsam, außer der Liebe zu radikal auf Wirkung gepanschten Alkoholzubereitungen.
Paul Thomas Anderson ist in letzter Zeit viel mit den Regie-Göttern vergangener Epochen verglichen worden, etwa mit Alfred Hitchcock oder Stanley Kubrick. Tatsächlich ist sein „The Master“, noch mehr als etwa dessen unmittelbarer Vorgänger „There Will Be Blood“, ein Full-Service-Film. Man hat von Beginn an das Gefühl, ein zuverlässig gewartetes, perfekt organisiertes ästhetisches Universum betreten zu haben, in dem an alles gedacht und alles geregelt ist, und zwar durch sehr spezifische Regeln.
Ein Regie-Gott der Jetztzeit?
Die Erfahrung, die einen nun erwartet, ist nicht die der Überraschung oder gar der Begegnung mit sich selbst, sondern das Bezeugen der langsamen Entfaltung all dieser Regeln, der Probe der Prädestination aufs Exempel historischen menschlichen Lebens.
Diese Art des Filmemachens korrespondiert mit bestimmten inhaltlichen Interessen: bei Kubrick mit Erzählungen und Analysen von Hierarchie, Institutionen und Determination, bei Paul Thomas Anderson hingegen geht es um das Fleisch und Blut von Macht und insbesondere bei diesem und dem vorherigen Film: um Männerkörper und das Patriarchat. Männliche Herrschaft und männliche Gewalt werden traditionell als eng verbunden gezeigt.
Männer mit Macht üben Gewalt aus, die Rituale männlicher Gewaltausübung sind wiederum eng mit Machtstrukturen verbunden: von Vätern und Chefs, Armee und Polizei bis zu Bolzplatz und Rock ’n’ Roll. Der Witz von „The Master“ ist die Aufgliederung traditioneller männlicher Körperlichkeit auf zwei Charaktere.
Joaquin Phoenix als Dämon mit Humor
Die erste halbe Stunde gehört Phoenix fast allein. Ein überkandidelter, gehetzter, wirr, aber beseelt lachender, hochgepitchter Maniac, der von seinen allerdings nicht ganz humorlosen Dämonen durch kurzfristige Existenzentwürfe gejagt wird – und doch nur jede freie Sekunde für sexuelle Übergriffe und den geliebten Industriealkohol nutzt.
Dann fällt er einem Mann in die Hände, der gern mit Nervensystemen und deren Besitzern experimentiert. Der Anführer der pseudobehaviouristischen Sekte „The Cause“ nimmt sich des verlorenen Outsiders an – und Joaquín Phoenix darf sein Leistungssport-Acting vorübergehend etwas runterfahren.
Im Vorfeld ist viel spekuliert worden, Anderson habe hier eine großformatige Abrechnung mit Scientology geplant. Eine Anekdote machte die elektronische Runde, derzufolge Anderson und Ober-Scientologe Tom Cruise gemeinsam den Rohschnitt des Films angesehen und trotz großer Einwände von Cruise hätten Freunde bleiben können.
The Cause ist aber, anders als Scientology, kein weltumspannendes Psychounternehmen, das mit straffem Regiment Abweichler verfolgt und den ökonomisch-institutionellen Selbsterhalt über alles stellt, sondern eine mit liebenswert bekloppten Reaktionstests arbeitende Hochstaplertruppe, deren Macht und Einfluss noch auf wackligen Beinen stehen.
Vor allem aber ist der Habitus aus verquasten Eso-Texten und szientistischen Manierismen, die für wissenschaftliche Dignität sorgen und die Spendenbereitschaft bei Interessenten, besonders unter den betuchten, geistig interessierten Ladys aus der East Coast Society, fördern sollen, gar nicht so weit weg von anderen, seriöseren Weltanschauungsangeboten zwischen Grenzwissenschaft und Psychologie der fünfziger Jahre.
Philip Seymor Hoffman als Guru
Nun kommt die Stunde Philip Seymour Hoffmans. Genüsslich zelebriert er den kalkulierenden Guru, der seine Schäfchen durchschaut. Seine auf milder Verachtung für die zu Verführenden aufgebaute Souveränität ist nicht nur seine Methode, sie ist auch der Inhalt seiner Predigten und Exkurse. Wer so über andere verfügt, macht den derart Unterworfenen Lust, genauso über andere zu herrschen: die Lehranalyse zukünftiger Sektenführer und Psychoimperatoren.
Dass der von Hoffman gespielte Lancaster Dodd, der Züge des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard tragen soll, sich die offene Flanke erlaubt, über frühere Leben und andere, leicht als unwissenschaftlich erkennbare Motive zu dozieren, ist der spezifisch protestantischen Sehnsucht nach der Versöhnung von Spiritismus und Bürokratie seines White-Anglo-Saxon-Protestant-Publikums geschuldet. Sie stellt eine große Schwäche von Dodd dar, und er gerät in Wut, wenn er von rationalistischen Pressevertretern in die Enge getrieben wird.
Die andere Schwäche ist die Unvollständigkeit seiner Männlichkeit. Sie funktioniert nur, wenn die Verehrung ihm schon sicher ist; wenn er die eh Überzeugten abholen kann, wo er sie das letzte Mal zurückgelassen hat. Er ist unbeweglich, viel Gravitas, aber keine erkennbare Geschichte, kein Leben, das diese Fülle akkumuliert hat.
Der absterbende Patriarchenkörper
Darum erscheint ihm und dem Zuschauer der nervenschwache Freddy Quell, den Joaquín Phoenix so spielt, dass man sich an ihm schneidet, wie die sinnvolle Ergänzung. Sie versorgt den großen, langsam absterbenden Patriarchenkörper mit Nervenzellen. Dodd protegiert Quell gegen sein Umfeld, obwohl dieser sich weiterhin in jeder Weise danebenbenimmt.
Wenn diese zwei Pole einer, wie hier anhand von Freddys traumatisiertem Allgemeinzustand ziemlich deutlich wird, nicht zuletzt durch den Krieg unmöglich gewordenen Männlichkeit weiterhin ausagiert und bestaunt (und mit Genuss dargestellt) werden, dann auch, weil sie schon auf dem Wege zur Freakshow sind.
Was vor allem eine heutige Beobachtung ist, Joaquín Phoenix hat man deswegen auch schon Overacting vorgeworfen. Anderson gelingt es aber auf beeindruckende Weise, ein historisches (hauptsächlich weibliches) Publikum zu entwerfen, das oft nur in – allerdings sehr präzisen – Andeutungen zeigt, warum es von dieser Männlichkeit gerade in ihrer langsam jede Autorität verlierenden, komischen und katastrophalen Form so fasziniert ist.
Die Mittel dieser alten, einst natürlichen Männlichkeit sind exponiert und liegen vor, manche verzweifeln ob dieser plötzlichen Leere (wie eine enge Mitarbeiterin an Dodds widersprüchlichen Thesen), andere sind von ihr angezogen.
Traumatisierte Männer
Am schönsten wird das klar, wenn der Blick zurückgeworfen wird von den beiden Männern und der ihnen dienstbaren Kamera. Bei einer Versammlung sind die Anhängerinnen und Unterstützerinnen bei einer Klavierdarbietung unbeweglich aufgestellt wie zu Tableauxvivants. Genüsslich fährt die Kamera an ihren zufriedenen Gesichtern und ihrer gewaltigen Takelage entlang: Diese Kulisse festlicher Erregung in den Kostümen eines wohlanständigen Reichtums ist der Resonanzraum von Dodds/Hubbards Psychobürokratismus.
Dann übernimmt die Kamera Freddys Blick, und der ganze weibliche Teil der Gesellschaft ist nackt: Etwas anderes kann der durchgeknallte Körper des Kriegsveteranen gar nicht mehr registrieren. Dass diese zwei Hälften nicht wieder zusammengefügt werden können, ist das zentrale Thema dieses auch sonst an kulturhistorischen Beobachtungen nicht gerade armen Films.
„The Master“. Regie: Paul Thomas Anderson. Mit Philip Seymour Hoffman, Joaquín Phoenix u. a. USA 2012, 144 Min.
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