Interview zum Flughafengewahrsam: "Unserem Rechtssystem fremd"
Das Flughafenasylverfahren soll in Berlin ausgeweitet werden. Marco Bruns vom Deutschen Anwaltsverein (DAV) erklärt, warum es abgeschafft gehört.
taz: Herr Bruns, am neuen Berliner Großflughafen soll das umstrittene Flughafen-Asylverfahren künftig ausgeweitet werden. Der Deutsche Anwaltsverein (DAV) hat gerade an die Bundesregierung appelliert, das Verfahren in Deutschland abzuschaffen. Warum?
Marco Bruns: Das Flughafenverfahren wurde als Notlösung zu einer Zeit eingeführt, als eine große Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland kam. Mitte der neunziger Jahre lag die Zahl der Asylanträge bei um die 400.000 jährlich. Das Flughafenverfahren war damit verbunden, die rechtlichen Möglichkeiten der Betroffenen, die hier Asyl oder Schutz suchten, zu straffen bis fast unmöglich zu machen.
Und heute?
Die Situation ist inzwischen in vielerlei Hinsicht anders. Zum einen ist die Funktion des Verfahrens mittlerweile eher symbolisch: Die jährliche Zahl der Asylanträge ist um fast 90 Prozent gesunken, 2010 kamen noch 57 Personen ins Flughafenverfahren. Zum anderen hat die Praxis gezeigt, dass die Chancen der Betroffenen, in dem Verfahren tatsächlich Schutz zu gewinnen, über das noch zuträgliche Maß hinaus eingeschränkt sind.
Aber Sie kritisieren ja das Verfahren nicht nur als überflüssig, sondern auch, so heißt es in Ihrer Stellungnahme, weil es „Anomalien“ mit sich bringe, die „unserem Rechtssystem strukturell fremd“ seien. Was bedeutet das?
Es ist zum Beispiel unserem Rechtssystem strukturell fremd, dass der Zugang der Betroffenen zu einer Beratung vor Anhörungen verhindert wird. Es ist unserem Rechtssystem sehr fremd, Fristen von wenigen Tagen zu etablieren, die praktisch nicht einzuhalten sind, oder dass Menschen sich von Anwälten beraten lassen müssen, von denen sie nicht genau wissen, ob das nun tatsächlich ihr Anwalt ist oder doch vielleicht einer der Gegenseite. Und es ist unserem Rechtssystem vollkommen fremd, dass man so umfangreiche und schwierige Sachverhaltsermittlungen, wie man sie in solchen Verfahren machen muss, innerhalb von kürzester Zeit macht.
Der Rechtswanwalt mit Kanzlei in Frankfurt/Main hat die Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins zum Flughafen-Asylverfahren verfasst.
Schutz suchende Ausländer werden mit ganz anderen rechtlichen Maßstäben gemessen, als sie für Einheimische gelten?
Nicht nur das: Sie werden auch mit anderen Maßstäben gemessen als diejenigen, die ihren Asylantrag im Bundesgebiet selbst und nicht am Flughafen stellen. Da dauern Verfahren Monate, teils Jahre. Vielleicht kann man sagen, sie dauern zu lange. Aber sie bieten auch andere Möglichkeiten, sich beraten zu lassen.
Warum ist es so wichtig, dafür Zeit zu haben?
Denken Sie an Traumatisierte, unter den Flüchtlingen ist das eine sehr große Zahl. Wenn Sie als Traumatisierter aus welcher Situation auch immer herauskommen und dann am Flughafen in einer starken Stresssituation gleich umfänglich über genau das berichten sollen, was letztendlich traumatisierend war – das kann nur schiefgehen. Das kann kein Mensch.
Ist es eigentlich rechtmäßig, jemanden festzusetzen, nur weil er Asyl sucht? Faktisch sind die Schutzsuchenden ja in Haft.
Freiheitsentzug, nur weil jemand Asylbewerber ist, ist rechtlich unzulässig. Faktisch sind die Leute am Flughafen aber inhaftiert, ja. Das Ganze wird mit einem Kniff aufrechterhalten, der sehr umstritten ist: Indem man nämlich sagt, es handele sich nicht um Haft, weil die Leute, wenn sie möchten, mit dem nächsten Flieger zurückfliegen können. Mit anderen Worten: Die Tür sei ja nach hinten offen.
Nun hat der DAV gefordert, das Verfahren ersatzlos zu streichen. Ist das realistisch?
Ich halte es für durchaus realistisch, jedenfalls auf lange Sicht. Die Bundesregierung bewegt sich ja beim Asylrecht nicht mehr auf einsamem Gebiet, sondern ist in die EU eingebunden. Und es gibt starke Bewegungen, dieses Verfahren europaweit zu streichen, eben weil es sehr problematisch ist. Deshalb ist die Chance, dass es früher oder später abgeschafft wird, nicht die schlechteste. Es ist nur die Bundesrepublik Deutschland, die in den entsprechenden Verhandlungen versucht, das Flughafenverfahren möglichst aufrechtzuerhalten. Und das wohl eher aus symbolischen Gründen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
HTS als Terrorvereinigung
Verhaftung von Abu Mohammad al-Jolani?