Inflation in Venezuela: Öl allein macht nicht glücklich
Im Land mit der höchsten Inflationsrate der Welt stehen Verbraucher immer wieder vor leeren Regalen. Die Regierung setzt weiter auf den Ölsektor.
BUENOS AIRES taz | Als vor knapp einem Jahr der Mangel an Klopapier in Venezuela weltweit für Schlagzeilen sorgte, macht unter der Bevölkerung schnell ein Witz die Runde: Die Revolution von Hugo Chávez habe die Versorgung mit Nahrungsmitteln derart verbessert, dass die Venezolaner einfach mehr auf die Toiletten gehen müssen.
Doch seit die Lücken in den Regalen der Supermärkte immer größer werden, vergeht den venezolanischen Verbrauchern die Lust auf Witze. Ende Januar schlug die Industriekammer der Milchwirtschaft Alarm. „Wir brauchen sofort Milchpulver“, sagte Kammerpräsident Roger Figueroa.
Die Situation sei „unerträglich und unhaltbar“, das Angebot könne mit der hohen Nachfrage einfach nicht mehr mithalten. Lediglich 40 Prozent werde in Venezuela produziert, alles andere müsse über Importe abgedeckt werden, so Figueroa. Auch für den gestrigen Dienstag hatten Aktivisten wieder zu Demonstrationen gegen Versorgungsengpässe, Korruption und Kriminalität aufgerufen.
Was die Venezolaner tagtäglich in den Supermärkten erfahren, wird von der Banco Central Venezuela (BCV) in einem Mangelindex erfasst, der das Fehlen von Waren registriert, die auch durch vergleichbare Marken nicht ersetzt werden können. Für Januar gab die BCV mit 28 Prozent die höchste Mangelrate an, die je gemessen wurde. Sie bedeutet, dass in 28 von 100 überprüften Geschäften Grundnahrungsmittel im Angebot fehlten. Verglichen mit dem Vormonat ist das eine Steigerung um 5,8 Prozent.
Öldollars reichen nicht für die Importe aus
Experten machen die „holländische Krankheit“ für Venezuelas Misere verantwortlich. Darunter leiden Volkswirtschaften, die sich auf den Export eines alles bestimmenden Rohstoffs konzentrieren und den Rest der Wirtschaft vernachlässigen. Venezuela ist gegenwärtig das Paradebeispiel einer durch Erdöl finanzierten Importwirtschaft und den daraus resultierenden Problemen. Zwar sprudeln in dem Land mit den größten Ölreserven der Welt weiterhin die Dollars in die Kassen. Gemessen an den für Importe und Staatsausgaben notwendigen Devisen werden diese immer knapper.
Da das Land fast alles importieren muss, fließen die Petrodollar ebenso schnell wieder ab, wie sie in die Kassen des staatlichen Erdölkonzerns gespült wurden. Über 60 Prozent des Staatshaushalts werden durch die Einnahmen aus dem Export von Rohöl und den daraus gewonnenen Produkten finanziert.
Dass Hugo Chávez Anfang der 1990er Jahre angetreten war, um unter anderen ebendiese Abhängigkeit zumindest zu mildern, daran erinnern sich heute nur noch wenige. Heute setzt die Regierung in Caracas geradezu verzweifelt aufs Öl. Die einzigen Bereiche, die in den letzten Jahren noch ein Wachstum verzeichnen konnten, sind der Handel, die Finanzbranche, die Telekommunikation und - durch die staatlichen Wohnungsbauprogramme - das Bauwesen.
Regierung lässt die Notenpresse laufen
Die hausgemachte Devisenknappheit führt dazu, dass die Regierung bereits seit Monaten den Dollarumtausch, selbst bei schon bewilligten Anträgen, immer wieder hinauszögert. Der Warenimport verlangsamt sich entsprechend und macht sich mit leeren Regalen in den Geschäften bemerkbar.
Wer als Importeur unter Zahlungsdruck steht, dem bleibt nur der Gang auf den Schwarzmarkt – das daraus resultierende Risiko lässt die Preise steigen und die Inflationsrate nach oben schnellen. Mit knapp 55 Prozent hatte Venezuela im vergangenen Jahr die höchste Inflationsrate der Welt.
Die Devisenknappheit ist jedoch nur eine Ursache der Inflation. Eine andere ist das stetig steigende staatliche Haushaltsdefizit, das die Regierung zum Großteil mithilfe der Notenpresse stopft. Die Faustregel, nach der Banker bei eingefrorenen Wechselkursen die umlaufende Geldmenge der heimischen Währung durch die Devisenreserven der Zentralbank dividiert und so einen Wechselkurs errechnet, spiegelt sich im gegenwärtigen Schwarzmarktkurs von 85 Bolívares für einen Dollar wider.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen