Grüne in den USA: "Unsere Partei ist eine Bedrohung"
Die ersten drei Jahre Obama sind vorbei. Sparprogramme für das Volk, Steuergeschenke für Reiche – Jill Stein, Grünen-Kandidatin für die Präsidentschaftswahl, zieht eine vernichtende Bilanz.
taz: Frau Stein, Sie machen unter anderem Wahlkampf in den Occupy-Camps, wo andere Politiker nicht einmal Rederecht erhalten. Wieso interessieren sich die eher anarchistischen Besetzer für Sie?
Jill Stein: Das ist eine neue Generation. Es sind junge Leute, die in einer Wirtschaft aufgewachsen sind, die ausbeutet. Wir respektieren ihre Autonomie. Aber unsere Themen sind zu 90 Prozent deckungsgleich.
Was sind diese Themen?
Die Leute verlieren ihre Arbeit, ihre Häuser, ihre Renten, ihre Gesundheitsversorgung und ihre bürgerlichen Freiheiten. 146 Millionen Leute leben nah an oder unterhalb der Armutsgrenze. Im Jahr 2011 haben eine Million Amerikaner ihre Gesundheitsversicherung verloren. Und 6 Millionen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Gleichzeitig geht es den wenigen Reichen besser denn je. Die gewählten Politiker beider Parteien machen alles noch schlimmer, indem sie einerseits dem Volk Sparprogramme aufzwingen und andererseits Millionen für Kriege, für die Wall Street und für Steuergeschenke an die Reichen verprassen.
Das hört sich an, als machten Sie überhaupt keinen Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern.
Wir sprechen von den "Parteien des Establishments". Weil beide Parteien von der Wall Street kontrolliert werden und weil beide die Interessen des großen Geldes vertreten. Anders als vor vier Jahren verstehen die Amerikaner das heute sehr gut. Umfragen ergeben, dass sie sich nicht länger mit Republikanern und Demokraten identifizieren. Und dass sehr viele ihre Parteien - insbesondere die demokratische Partei - verlassen. Es gibt einen großen Appetit auf eine dritte Partei.
Die Frau: Die 61-Jährige ist Ärztin. Seit 2002 hat sie vier Wahlkampagnen für die Green Rainbow Party in Massachusetts geführt. Bei der erfolgreichsten davon erhielt sie 18 Prozent der Stimmen.
Die Kandidatin: Jetzt ist Stein die aussichtsreichste Bewerberin für die Nominierung als grüne Kandidatin für die US-Präsidentschaftswahlen. Die Nominierung wird im Juni bei einem Kongress in Baltimore stattfinden.
Das Programm: Steins Hauptthema ist ein "Green New Deal". Als Vorbild dient der New Deal, mit dem die USA die Große Depression der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts überwunden, eine moderne Infrastruktur gebaut und Millionen Arbeitsplätze geschaffen haben.
In den US-Medien ist ausschließlich von Republikanern und Demokraten die Rede. Wo ist der Platz für eine dritte Kandidatur?
Das System ist extrem manipuliert. Es schirmt sich gegen reale demokratische Bewegungen ab.
Was meinen Sie damit?
Unsere Partei ist eine Bedrohung. In meiner ersten Kampagne als Gouverneurin hatte ich in dem Moment keinen Zugang mehr zu den Debatten, in dem wir in den Umfragen stärker wurden. Das System schließt Kandidaten aus, die es nicht kontrollieren kann.
Die Grünen in den USA: Ab Mitte der 90er Jahre begannen grüne Organisationen, sich als Partei zusammenzuschließen. Ihr Hauptinteresse gilt in der Regel der Lokalpolitik. 1996 stellten sie mit dem Verbraucherschützer Ralph Nader erstmals einen Präsidentschaftskandidaten auf. Das beste nationale Wahlergebnis erhielt Nader 2000 mit 2,7 Prozent. Seither hängt den Grünen an, die Präsidentschaft George W. Bushs ermöglicht zu haben: Im entscheidenden Bundesstaat Florida fehlten dem Demokraten Al Gore damals knapp 500 Stimmen zum Sieg - Nader hatte dort 97.000 Stimmen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2008 bekam die grüne Kandidatin Cynthia McKinney landesweit 161.603 Stimmen. Zum Vergleich: Auf Mitt Romney entfielen bei den republikanischen Vorwahlen in Florida am Dienstag 771.842 Stimmen.
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US-Wahlrecht: Bei Präsidentschaftswahlen gilt das Mehrheitswahlrecht auf Bundesstaatsebene: Wer im Bundesstaat die meisten Stimmen erhält, bekommt alle Wahlmänner. Für den Kongress gibt es ausschließlich Direktkandidaten, keine Listenwahl. Drittparteien oder -kandidaten haben kaum eine Chance. In jüngster Geschichte ist es Drittkandidaten nur zweimal gelungen, auf den Wahlausgang Einfluss zu nehmen: Ross Perot 1992 und Ralph Nader 2000. Seither sorgen beide große Parteien dafür, dass Drittkandidaten zum Beispiel von den TV-Debatten der Präsidentschaftskandidaten ausgeschlossen sind.
Die USA befinden sich in permanentem Wahlkampf. Kaum waren die Halbzeitwahlen im November 2010 vorbei, begann schon das Gerangel für die Präsidentschaftswahlen. Ist das besonders demokratisch?
Das ist zwar permanenter Wahlkampf, aber nicht Demokratie. Und es ist nicht repräsentativ. Schauen Sie nur, wie Gingrich nach seinem schlechten Abschneiden in Iowa wieder nach vorn gekommen ist: Ein Kasinomagnat aus Las Vegas hat ihm 5 Millionen Dollar gespendet. Das hat mit Grassroots, wo sich Leute engagieren, nichts zu tun. Unser Wahlsystem ist ein Betrug. Hier kauft Geld die Medien. Und bezahlt diesen Zirkus, der dem Publikum serviert wird. Wenn wir ein System hätten, in dem ein Mensch eine Stimme hat, wären diese Typen nicht an der Macht.
Natürlich hat in den USA jeder Wähler eine Stimme.
Aber um zu den Wählern zu kommen, ist wahnsinnig viel Geld nötig. Kandidaten, die kein Millionen-Dollar-Budget haben, kommen gar nicht erst in den öffentlichen Äther. Was Sie hier im Fernsehen erleben, sind Wall-Street-gesponserte Kandidaten. Deswegen werden wir auf dem Wahlzettel sein: als eine Möglichkeit, sich gegen das von der Wall Street kontrollierte politische System auszusprechen.
Woher kommt denn Ihr Geld?
Von Grünen, Antikriegsaktivisten, Friedensaktivisten, von Leuten, die eine universelle Krankenversicherung wollen, und von Libertären, die entsetzt sind über das National-Defense-Authorization-Gesetz [im Dezember von Obama unterzeichnet; d. Red.]. Es schafft die Unschuldsvermutung ab und ermöglicht es, jeden zum Terroristen zu erklären und unbefristet zu inhaftierten. Wir akzeptieren keine Spenden von Unternehmen oder von Firmenchefs. Wir nehmen kein Geld, das an Bedingungen geknüpft ist.
Wie messen Sie Erfolg?
Mitreden. Themen setzen. Dialog. Kulturelle Präsenz. Es geht nicht um Stimmenzählen. Wir wollen präsent sein. Unser Hauptziel in dieser Kampagne ist es, die Infrastruktur der Partei aufzubauen. Wenn wir als alternative politische Stimme wahrgenommen werden, wenn wir die Zahl der Grünen auf lokaler Ebene bei den Wahlen in 2014 verdoppeln könnten, selbst wenn wir im November nur 2 Prozent machen, wäre das ein Sieg für uns: eine Oppositionsbasis, von der aus wir wachsen können.
Nicht wenige demokratische Wähler werden wütend, wenn sie den Namen Ralph Nader hören. Sie werfen ihm vor, dass er mit seiner Kandidatur im Jahr 2000 George W. Bush zum Wahlsieg verholfen habe.
Oh ja! Es gab jede Menge Schmähungen und das Bemühen, die Grünen loszuwerden.Und das wird in den nächsten Monaten noch zunehmen. Dabei hätten die meisten Leute, die für Nader gestimmt haben, auch ohne seine Kandidatur nicht für die demokratische oder republikanische Partei gestimmt.
Dieses Mal könnte es wieder ein extrem knapper Wahlausgang werden. Was würden Sie denn sagen, wenn Sie im November tatsächlich genau die 2 Prozent bekämen, die Obama zum Sieg fehlen würden?
Was hat Obama im Krieg getan? Er hat die Truppen aus dem Irak abgezogen: nach Bushs Zeitplan und nur, weil er keine Immunität aushandeln konnte, um länger dortzubleiben. Was hat er bei seinem Amtsantritt als Erstes getan? Er hat eine Bombenkampagne in Pakistan begonnen. Er hat Guantánamo permanent gemacht. Er hat eine neue Front im Krieg für Öl in Afrika eröffnet. Er führt Stellvertreterkriege mit Drohnen in Somalia. Das ist alles andere als ein Friedenspräsident.
Wieso kommt Obama damit durch?
Als der demokratische Präsident gewählt wurde, ist die ganze Bewegung schlafen gegangen. Er gibt vor, er wäre progressiv. Und die Leute arrangieren sich mit seiner Politik, die aus dem Programm von Bush stammt, aber mit einem Lächeln vorgetragen wird. Das ist eine sehr gefährliche Situation. Obama kommt mit Dingen durch, die bei George W. Bush nie durchgegangen wären. Die Politik der Angst hat uns genau das gebracht, wovor wir Angst hatten: Expansion, Kriege, den Zusammenbruch der Wirtschaft und Rettungsaktionen zugunsten von Wall Street. All diese Dinge, die wir von Republikanern erwarten, haben die Demokraten getan - ohne starke Proteste auszulösen.
Wäre die US-Politik denn mit einem Präsidenten John McCain besser gewesen?
Viele Leute stellen sich diese Frage. Aber das ist Spekulation. Inzwischen gibt es die die Occupy-Bewegung. Und jetzt muss auch unser Wahlsystem ein Ausdruck von Demokratie werden.
Für wen haben Sie selbst beim letzten Mal gestimmt?
Ich habe grün gestimmt. Ich habe mich nicht von Obama täuschen lassen. Er hörte sich wunderbar an. Er hat eine großartige Rhetorik, eine fesselnde persönliche Geschichte und eine sehr sympathische Persönlichkeit. Aber er ist eine Kreatur des Systems.
Wieso ist die Umweltbewegung - und Ihre Partei - in den USA so relativ schwach?
Umfragen zeigen, dass die Öffentlichkeit sich Sorgen um die Umwelt macht. Wir haben lokale Referenda in Massachusetts durchgeführt, bei denen wir die Frage nach der Umleitung öffentlichen Geldes in einen Green Deal gestellt haben. Wir dachten, wir wären zu klein. Und wir konnten uns keine PR-Kampagne leisten. Aber wir haben 80 bis 90 Prozent Zustimmung in den Kommunen bekommen.
Wie sehen Sie sich im Verhältnis zu den deutschen Grünen?
Ich glaube, wir sind ähnlich. Wir wollen eine grüne Ökonomie. Wir wollen, dass Arbeiter einen Lohn bekommen, von dem sie leben können. Wir haben in den USA eine sehr geschlossene politische Gesellschaft, in die wir uns einen Weg hineinkämpfen müssen. Aber der Moment ist günstig. Viele Progressive haben ihre ganze Hoffnung in Obama gesetzt - und sind jetzt bitter enttäuscht. Wir können nicht einfach fortsetzen, was nicht funktioniert. De facto sind wir der einzige linke Versuch, der überlebt hat. Wir Grünen haben Überzeugung und Leidenschaft. Und wir gehen nicht weg.
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