Gedenken an Christian Semler: Wenn wir einmal alt sind …
… ja, was dann? Über diese Frage schrieb Christian Semler im März 2006. Jetzt ist er gestorben. Zur Erinnerung an ihn hier noch einmal seine Antwort.
Ja, mach nur einen Plan,
Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch 'nen zweiten Plan
Geh'n tun sie beide nicht
(Bertolt Brecht, „Dreigroschenoper“)
Machen wir Lebenspläne? Eine Umfrage unter den Kollegen der taz fördert ernüchternde Ergebnisse zutage. Nicht mal die wichtigsten Lebensplanziele stehen fest. Dabei sollen wir doch nach der herrschenden Ideologie lebenslange Unternehmer unserer selbst sein, was ein sorgfältiges, gleichzeitig flexibles, aber auch planerisch zielstrebiges Auftreten auf dem Lebenschancen-Markt voraussetzt. Mittelfristige Planung ist schon die Ausnahme.
gründete 1970 die maoistische Kommunistische Partei Deutschlands und wurde später deren Vorsitzender. In einem „Gespräch über die Zukunft“, das Hans Magnus Enzensberger mit ihm und Rudi Dutschke 1967 für das Kursbuch führte, wurden die Basisideen der Studentenbewegung mitformuliert. Seit den 1980er Jahren arbeitete er in der taz. Er starb im Alter von 74 Jahren in der Nacht zum 13. Februar 2013.
Kürzlich eröffnete mir ein jüngerer Kollege: „Ich wollte mit 35 ein Eigenheim, eine Ehefrau und einen BMW. Jetzt bin ich 35, habe eine Mietwohnung, eine Geliebte und einen Golf. Das ist doch wirklich kein schlechtes Ergebnis.“ In der Tat! Aber wo bleibt die Idee der Selbstverwirklichung im Lebenszyklus, der wankelmütigen Fortuna mutig abgetrotzt? Sie war doch schließlich mal das biografische Idealbild - zumindest der akademischen Mittelschichten.
Alles auf der Strecke geblieben. Auch bei Arbeitsverhältnissen, die nicht so sehr in der „Zone der Prekarität“ angesiedelt sind wie bei der taz, greift Lebensplanlosigkeit um sich.
Aber war das jemals anders, vor allem wenn man über den Mittelschichten-Tellerrand blickt? Für das Gros der Lohnabhängigen waren Prekarität und die regelmäßige Zerstörung aller vorgefassten individuellen Pläne stets der Normalfall gewesen. Ein anderes Bild ergibt sich nur mit Blick auf die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Mit der wirtschaftlichen Rekonstruktion nach 1945 entstand in der Bundesrepublik so etwas wie relative Lebensplanungssicherheit.
Sie war ebenso das Resultat der langen Konjunktur wie das Produkt von Klassenkompromissen. Der Sozialstaat des rheinischen Kapitalismus basierte seitens der Machteliten auf der Einsicht, dass die Einbeziehung der Lohnabhängigen in den demokratischen Staat, ihre „Systemintegration", ausgreifende, durch den Staat garantierte kollektive Sicherungen voraussetzte.
Lebensplanung sollte sich an diesen Garantien ausrichten, wurde nicht auf die Individuen abgewälzt. Die Reform von 1957, die die dynamisierte Rente begründete, galt für lange als sichtbarstes Wegzeichen dieser Entwicklung. Und Norbert Blüms Ausruf als Arbeitsminister der Kohl-Regierung ("Die Rente ist sicher!") war nichts als eine Beschwörungsformel, mittels deren die soziale Integration fortgesetzt werden sollte.
Das ist alles Geschichte. In dem Maße, wie Unsicherheit sich in allen Lebensverhältnissen einnistet, grassiert die Ideologie des „Selbst“, dem in allen Lebenslagen Optionen offen stehen. Ergreift der „Selbst“-Ständige sie nicht, so zeigt sich darin nichts als persönlich zu verantwortende Schwäche, Charakterschwäche, Bildungsschwäche. Die „Sorge um sich selbst“ betrifft gerade jene Bereiche, in die der Sozialstaat die Pflöcke einrammte, an denen sich Lebensplanung ausrichten sollte.
Es geht wohlgemerkt nicht darum, dass Versicherungssysteme, etwa mit Rücksicht auf die Demografie, sich veränderten Bedingungen anpassen müssten. Sondern darum, dass jedwede Verlässlichkeit sich auflöst. Gut, da war Hartz IV, schrecklich genug. Aber was wird uns die Kette der Nach-„Besserungen“ bringen, mit der Kürzung des Arbeitslosengeldes II für Jugendliche unter 25 als jüngstem Beispiel?
Alles rutscht. Müntefering als Arbeitsminister lanciert den Vorstoß, die im Koalitionsvertrag vereinbarte Rente mit 67 so vorzuziehen, dass schon die heute 36-Jährigen bis zum Alter von 67 arbeiten müssen. Hier entspricht die Form der Vorgehensweise dem Inhalt der Botschaft. Der Vorstoß wurde über die Medien lanciert. Es folgte eine bis heute nicht abgeschlossene Debatte darüber, ob für schwer Arbeitende nicht eine Variation der Invalidenrente wieder aufgelegt werden sollte.
Der Koalitionsvertrag zur Erhöhung des Rentenalters bezeichnete also mitnichten einen neuen Eckpunkt, an dem sich so etwas wie Lebensplanung hätte orientieren können. Sondern der Vorhang wurde aufgezogen für ein neues Schauspiel der Verunsicherung - weitere Akte werden folgen.
Nach dem Eintrittsalter mit 67 - vielleicht einer vorgeblichen Notwendigkeit folgend, die man leider nicht früher prognostizierte - die Rente mit 69? Noch höhere Abschläge beim vorgezogenen Ruhestand? Nullrunden über Jahrzehnte, vermehrte Besteuerung der Renten, Änderungen im Nachhaltigkeits-Faktor? Weitere Zumutungen, von denen wir noch nichts ahnen? Nichts gegen öffentliche Kontroversen, aber diese ganze Methode im Umgang mit den Grundpfeilern staatlicher Sicherheitsgewährung hat eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem "Trial and Error"-Prinzip. Nur dass Karl Raimund Popper dieses Prinzip für Zwecke des wissenschaftlichen Experiments entwickelte. Es handelt sich also beim Vorgehen der politischen Klasse um Versuche am lebenden Menschenobjekt.
Aber entspricht diese Methode der Verflüssigung von Gewissheiten nicht einem Mentalitätswandel in der Mehrheitsgesellschaft? Werden wir nicht Zeuge eines realen Prozesses der „Individualisierung“, innerhalb dessen die Bewältigung von Lebensrisiken von den Einzelnen als Privatsache akzeptiert wird, sodass der Staat nur nachvollzieht, was sich in der Gesellschaft schon durchgesetzt hat?
Folgt man der aufblühenden Praxis jener Unternehmenszweige, die sich der Bearbeitung der RentnerInnen zuwenden, so kann man diese Frage nur mit einem entschiedenen „Ja!“ beantworten. Dort treffen wir auf ein Himmelreich der Optionen, von der Planung des „goldenen“ Lebensabschnitts, der sich den "Senioren" eröffnet. Denn eigentlich sind die Senioren nicht alt, es sind die „jungen Alten“, die „aktiven Junggebliebenen“, die Angehörigen des „Best Age“, oder kurz die „50 plus“.
Und ist von den 68ern, die jetzt in Rente gehen, nicht ein planvolles, natürlich kritisches Konsumverhalten zu erwarten, ein Pendelspiel zwischen diversen europäischen Domizilen mit dem sicheren Anker im angestammten linken Milieu?
Die Sache mit der Lebensplanung im Alter hat nur einen Haken: Es handelt sich hier um Leute, die im Branchenjargon Woopies (well-off-older-people) oder auch Grampies (growing-retired-active-monied-people) genannt werden.
Aber auch hier, bei den ergrauten wie den noch mitten im Erwerbsleben werkelnden Mittelständlern, breitet sich Angst aus. Selbst in scheinbar bombensicheren Beschäftigungsverhältnissen grassiert das Gefühl, der erreichte Wohlstand sei prekär und der Absturz könne einen jederzeit ereilen.
Selbst das Manager-Magazin, wo doch Zuversicht Redaktionspflicht ist, verbreitet sich gefühlvoll über die jähe Entlassung leitender Angestellter.
All dies spricht gegen die These von der Freude an Risiko und Verantwortung. Die Bastelbiografie mit dem postmodernen Ethos vom ständigen Abbruch und Neuanfang gilt als Schreckbild, keineswegs als Ideal der Persönlichkeitsentwicklung.
Wird Zeit, dieses ganze Gerede vom ebenso notwendigen wie begrüßenswerten Ende staatlicher Sicherungsgewährung wieder unter dem Gesichtspunkt zu sehen, was eine Gesellschaft zusammenhält und wodurch sie ihre Bindungskraft verliert.
Wenn der Staat systematisch die Pfeiler untergräbt, auf denen Lebensplanung ruhte, wird er nicht neuen individuellen Wagemut ernten – sondern Verzweiflung. Mit den aus der Geschichte Deutschlands bekannten Folgen.
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