Fleischkonsum weltweit: Ist uns wirklich alles wurst?

Unser Speiseplan entscheidet mit über die Zukunft der Welt. Vor allem die jungen Menschen reagieren.

Weißwurst. Bild: reuters

DEUTSCHLAND zeo2 | Unentschieden! Es steht immer noch Unentschieden. Am Berliner Mehringdamm kämpfen Zucchini gegen Currywürste, ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen. Als der U-Bahn-Schacht eine vierköpfige Männergruppe im Blaumann ausspuckt, fällt die Vorentscheidung: Die Arbeiter steuern ohne zu zögern den Stand mit der roten Markise an: „viermal Currywurst ohne Darm, einmal extrascharf!“ Der Sieg für die Wurst.

Doch der Gemüse-Kebap nebenan hat sich prächtig geschlagen an diesem schwülen Frühsommer-Nachmittag, ein starker Gegner. Und schon morgen beginnt ein neuer Wettkampf zwischen den beiden Verkaufsständen, die nur 30 Meter voneinander entfernt um die Gunst der Berliner Mägen ringen. Hier lockt das Curry 36, eine 30jährige Berliner Institution in Sachen fetter Schweinewurst zu 1,50 Euro.

Dort gibt‘s seit sechs Jahren Gemüse-Kebap für 2,50 Euro, ein gebratenes buntes Gemüse-Allerlei in der Weißbrottasche mit Soßenklecks. Die beiden Stände sind exemplarisch. Sie markieren zwei Wege, zwischen denen sich der Allesfresser Mensch Tag für Tag entscheiden muss. Fleisch und Wurst satt oder die Abrüstung an der Kühltheke. Es ist eine Entscheidung zwischen Massentierhaltung, Klima-Gau und Tötungsbucht auf der einen Seite oder einer sanfteren Ernährung, die Ressourcen, Tiere und Umwelt schont, auf der anderen.

Es gibt Tageszeiten, an denen ist die Gemüseschlange länger als die bei der Wurst. Und eines fällt auf: Unter der roten Markise des Curry 36 drängeln sich mehr Männer, beim Gemüse stehen die Frauen. Die Gemüseschlange ist jünger, die Currywürste sind älter! Es sind Beobachtungen, die Andreas Schneider nur bestätigen kann. Der Projektleiter des Deutschen Vegetarierbundes sitzt gut gelaunt an seinem Schreibtisch und widerlegt damit schon mal Bayern-Boss und Wurstfabrikant Uli Hoeneß, der noch nie einen fidelen Vegetarier gesehen haben will.

Hipp und trendy

Schneiders Laune wird noch besser, wenn er in die Statistik schaut. Innerhalb der letzten vier Jahre hat sein Arbeitgeber die Mitgliederzahl glatt auf 6.000 Mitstreiter verdreifacht, „täglich kommen neue dazu“. Vegetarisch leben oder zumindest den Fleisch- und Wurstanteil reduzieren, „ist hipp und trendy“, sagt Schneider, vor allem bei den Jüngeren. Er spürt den Trend nicht nur bei den Mitgliederzahlen. Er erlebt ihn auch bei den sprunghaft gestiegenen Anfragen der Medien und bei unzähligen Initiativen.

Siemens und Ikea, Puma und die bayerische Versicherungskammer – immer mehr Unternehmen führen vegetarische Tage in den Kantinen ein, verordnen Schweineklops und Ochsenbrust eine Auszeit. Der aus Belgien herüber geschwappten Initiative „Donnerstag ist Veggietag“ haben sich inzwischen 20 Städte von Bremen bis Schweinfurt, vom sachsen-anhaltinischen Magdeburg bis zum niederbayerischen Deggendorf angeschlossen.

Weitere 20 Städte stehen in den Startlöchern. Und 52 Prozent aller Deutschen versuchen inzwischen, so zumindest die Selbstauskunft bei Forsa, ihren Fleischhunger und den Verbrauch an tierischem Eiweiß zu zähmen. Allerdings: Besonders erfolgreich sind sie dabei nicht. Noch liegt der Fleischkonsum in Deutschland auf absurd hohem Niveau.

Currywurst. Bild: reuters

Im Jahr 2010 registrierte das Metzgerhandwerk einen Pro-Kopf-Verbrauch von 89,3 Kilo (mit Knochen und Abfällen) und einen Verzehr von 61,1 Kilo. Gegenüber dem historischen Peak Ende der 80er Jahre mit 66 Kilo ist das nur ein leichter Rückgang. Dennoch hat sich das Verbraucherverhalten in den letzten Jahren nachhaltig verändert: vor allem im Kopf! Galt das „Stück Lebenskraft“, so die Fleischwerbung, früher als gesund und nahrhaft, haben die meisten Menschen längst negative Assoziationen wie Gammelfleisch, Tierquälerei in engen Ställen, Hormon- und Antibiotika-Orgien.

Und natürlich warnen Legionen von Ärzten und Ernährungsberatern vor der täglichen Überdosis an Eisbein und Big Mac. Das Vertrauen, bilanziert das Statistische Bundesamt in seinem Fleischreport, ist erschüttert. Fleisch hat Imageprobleme. Doch die kulturelle Prägung ist schwer zu überwinden. „Wir sind auf Fleisch konditioniert“, sagt Andreas Schneider. Zudem sind Fleisch und Wurst überall verfügbar und extrem billig.

Und rein geschmacklich schätzen viele Verbraucher einen saftigen Braten und deftige Würste. Die dauerhafte Reduzierung des Fleischkonsums oder gar der Ausstieg aus der Bratpfanne fallen schwer. Immerhin: Es gibt Ausstiegshilfen. Die Vegetarier haben ihren Agitprop früherer Zeiten, als sie gegen „Leichenteile auf den Tellern“ wetterten und gerne mal mit Blut um sich spritzten, durch eine intelligentere Kommunikation ersetzt.

Vegan-Abo und Tandempartner

Zum Angebot gehören: Der 30-Tage-Schnupperkurs: Einen Monat lang können Interessierte dem Fleische entsagen und auf Probe vegetarisch leben. Sie bekommen dabei fast täglich Motivationshilfen, Rezepte, Informationen per mail. Der Halbzeitvegetarier: Zwei Personen bilden ein Tandem und halbieren ihren Fleisch- und Wurstkonsum. Motto: „Zwei halbe Vegetarier ergeben einen ganzen!“ Der Veggie-Buddie: Wer seine Ernährung umstellen will, bekommt eine Hilfsperson an die Seite gestellt, die Tipps gibt, motiviert und tröstet.

Inzwischen hat auch die Industrie den Trend erkannt. Gleich drei vegetarische Messen finden dieses Jahr in Deutschland statt, und die einschlägigen vegetarischen Produkte stehen inzwischen auch in vielen Supermarktregalen. In den Buchregalen feiern Jonathan Safran Foer und Karen Duve erstaunliche Erfolge: Ihre kulinarischen Abrechnungen „Tiere essen“ (über 200.000 verkaufte Exemplare) und „Anständig essen“ (85.000) haben sich zu echten Bestsellern entwickelt, obwohl sie seitenlang mit ungeschönter Härte eine bestialische Fleischerzeugung in allen Details beschreiben.

Sie finden offenbar die richtige Tonlage, verknüpfen Recherchejournalismus gekonnt mit autobiografischen Erfahrungen und eigenen menschlichen Schwächen. Die Süddeutsche Zeitung kommentiert: „Nichts ist so unwiderstehlich wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Vor allem Foer schärft in seinem Buch immer wieder die globale Perspektive. Während bei uns der Konsum von Schnitzel und Hühnerbein stagniert oder leicht rückläufig ist, kennt der Fleischhunger der Welt keine Grenzen.

Braten. Bild: dpa

Die Produktion von tierischem Eiweiß gehört zu den dynamischsten Wachstumssektoren der gesamten Nahrungsmittelerzeugung. Mit beinahe naturgesetzlicher Konstanz wächst der globale Fleischberg um durchschnittlich zwei Prozent pro Jahr. Nach einer gemeinsamen Studie der Welternährungsorganisation FAO und der OECD könnten Produktion und Verbrauch bis zur Jahrhundertmitte nochmal um 40 Prozent zulegen, andere Quellen reden sogar von einer Verdoppelung.

Dann werden 100 Milliarden Nutztiere auf der Erde leben und „genau soviel Nahrungsmittel verzehren wie vier Milliarden Menschen“ (Foer). Früher fraßen sie vor allem Ernte- und Tischabfälle, dazu Heu und Gras. Heute sind sie direkte Nahrungskonkurrenten. In ihrem Futtertrog landen schon jetzt 36 Prozent des weltweiten Getreides und 70 Prozent der weltweiten Sojaernte.

Um ein Kilo Rindfleisch zu erzeugen, braucht es acht bis neun Kilo Mais und anderes Getreide und 16.000 Liter Wasser. Die Welternährungsorganisation FAO sieht „die Vieh- und Geflügelmast in einem immer stärkeren Wettbewerb um knappe Ressourcen.“ Der weltweite Verbrauch an Fleisch hat inzwischen die kaum vorstellbare Menge von 274 Millionen Tonnen im Jahr erreicht.

Schweinefleisch aus China

Damit hat sich der Fleischkonsum der Welt seit Beginn der 70er Jahre verdreifacht. Wichtigster Lieferant ist das Schwein, das rund 40 Prozent des globalen Fleischtellers füllt. Über die Hälfte des Schweinefleischs wird inzwischen in China produziert. Um ausreichend Futtermittel anzubauen, müssen chinesische Unternehmen im Ausland, auch in Afrika, große Flächen dazupachten. China kauft heute 40 Prozent der brasilianischen Sojaernte auf.

Den größten Zuwachs unter den Fleischsorten verzeichnet aber Geflügel, vor allem Huhn. Es ist zugleich das billigste Fleischangebot. Seite 1961 hat sich die Welt-Geflügelproduktion verzehnfacht. Aus dem großen Fleischtopf holen sich vor allem die Schwellenländer immer größere Brocken. Die Aufholjagd gegenüber den reichen Nationen lässt sich in Asien, Afrika und Südamerika beispielhaft ablesen.

Wo der Wohlstand wächst und sich neue Mittelschichten bilden, ist dies am Speiseplan leicht zu erkennen. Hier gilt Fleisch noch als Symbol für Aufstieg und Luxus. Stundenlang standen die Kenianer im letzten Sommer Schlange, als in Nairobi der erste ostafrikanische Kentucky Fried Chicken eröffnete. „Kenchick“ heißt der Lieferant, der in Mlolongo vor den Toren Nairobis im industriellen Maßstab die Hühner produziert.

Als Vegetarier bleibt der Teller sicher nicht leer, auch wenn das viele Fleischesser denken. Bild: dpa

In China ist der Verbrauch pro Kopf inzwischen auf 57,3 Kilo gestiegen – beinahe europäische Verhältnisse. Dagegen liegen die ärmsten Entwicklungsländer noch immer unter zehn Kilo. Und viele Menschen essen überhaupt kein Fleisch, weil sie es sich nicht leisten können. Aber nicht nur das Konsummuster, auch die Produktion ändert sich.

Der größte Anbieter von tierischem Protein weltweit kommt nicht mehr aus dem reichen Norden, sondern aus Brasilien: Der JBS-Konzern mit seinen 125.000 Beschäftigten schlachtet in 130 Fabriken weltweit 90.000 Rinder und acht Millionen Hühner am Tag! Jahresumsatz: 28 Milliarden Dollar. Und selbst Indien, das Land mit der Jahrhunderte alten vegetarischen Tradition, versucht mit großem Ehrgeiz, sich auf dem globalen Fleischmarkt zu etablieren.

Fleischvertilger Nummer eins sind immer noch die USA. Doch ausgerechnet in einem Land, in dem das 250 Gramm-Steak als Menschenrecht gilt, jammert die Branche über einen »jähen Absturz«, so der Viehbestandsbericht vom 20. Dezember 2011. Seit 2008 ist der Fleischkonsum in den USA um 12,2 Prozent zurückgegangen. Die Fleischbarone reden von einem „Krieg“ gegen ihre Branche.

Bill Clinton, der Vegetarier

Tatsächlich haben amerikanische Mediziner, Krebsforscher und auch Klima-Wissenschaftler immer wieder vor dem massiven Fleischgenuss gewarnt. Zuletzt rührte der gesundheitlich schwer angeschlagene Bill Clinton seine Landsleute zu Tränen. Millionen Zuschauer waren Zeuge, als der Ex-Präsident nach seiner Bypass-Herz-Operation mit brüchiger Stimme über seinen Speiseplan Auskunft gab: keine Steaks mehr, kein Truthahn, kein Hühnchen.

Clinton bekannte, er esse jetzt vor allem Gemüse und Hülsenfrüchte, kombiniert mit Eiweißdrinks und Mandelmilch. Seitdem habe er elf Kilo abgenommen und sei gesundheitlich stabil. Auch die immer wieder hochkochenden Fleischskandale verhageln den Amerikanern den Appetit. Undercover-Aufnahmen in einer Schlachtfabrik in Texas zeigen, wie Arbeiter mit Spitzhacke und Vorschlaghammer auf die Köpfe von Rindern einschlagen.

Ähnlich schockierende Bilder gibt es von Hühnerfarmen. Politisch brisant: Die Versuche der Massentierhalter, solche verdeckten Ermittlungen zu verbieten, scheiterten in mehreren Bundesstaaten. Aber: Noch liegen die Amis 40 Prozent über dem deutschen Verzehr. In Deutschland zeigt die Statistik keine heftigen Ausschläge, dafür dreht sich der Wind an anderer Stelle: An den ländlichen Standorten der Megaställe schwindet die Akzeptanz.

Manfred Kriener und Alexandra Rigos, die ganze Titelstory finden Sie in der Ausgabe 03/2012 „unser irre Lust auf Fleisch“.

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