Ferner Osten Russland: Schenken und Nehmen
„Nicht ein Rubel bleibt hier oben hängen“, sagt Wladimir Sujew. Der Ferne Osten Russlands bleibt sich selbst überlassen. Eine Reise mit der Eisenbahn.
CHABAROWSK/ KOMSOMOLSK taz | Jian, Seiran und Meilin amüsieren sich prächtig. Die drei Chinesinnen sind für einen Tag über die russische Grenze nach Chabarowsk gekommen. Zum ersten Mal sind sie beim Nachbarn im Norden zu Besuch. Die jungen Frauen können kein Russisch, aber Wadim gibt sich alle Mühe, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Der 30-Jährige sitzt neben ihnen in einer Bar auf dem Murawjew-Amurskij-Boulevard, der Flaniermeile der Hauptstadt des russischen Fernen Ostens. Mit einem Dutzend Wörtern Englisch webt Wadim an einem Freundschaftsband. Die Studentinnen belohnen ihn mit einem hinreißenden Lächeln und fotografieren den russischen Hünen wieder und wieder.
Im Fernen Osten ist Fremdes eigentlich suspekt, Freundschaftsbande sind selten. Seit die ersten russischen Kolonisten im 17. Jahrhundert in die Wildnis vordrangen, ist der Osten Grenzland geblieben. Eine riesige Landmasse zwischen Baikalsee und Stillem Ozean, die nur oberflächlich erschlossen wurde. Überall lauerten Feinde, echte und eingebildete, mal gerieten Japaner ins Visier, mal Amerikaner, mal Chinesen, aber auch Europäer oder die vielen indigenen Völker. In den 1930er Jahren versuchte die Sowjetunion, die Region endgültig zu unterwerfen. Rohstoffe lockten, von denen Russland bis heute lebt.
Wadims private Annäherungsversuche liegen im politischen Trend, den der Kreml im 6.000 Kilometer entfernten Moskau vorgibt. „Wenn Russland sich von Europa überprüft fühlt, intensiviert es seinen Drang nach Asien“, meinte vor achtzig Jahren Prinz Lobanow-Rostowsky. Und das ist heute wieder der Fall. Russland, das sich vom Westen missachtet fühlt, macht Peking Avancen. Bereits im Jahr 2007 machte es dem Nachbarn ein symbolträchtiges Geschenk. Russland trat eine Flussinsel im Grenzfluss Ussuri an China ab, um die beide Mächte 1969 fast einen Krieg begonnen hätten. Eine Novum angesichts imperialer Raumlogik, die Größe in Quadratkilometern misst – und ein Symbol neuer Zweisamkeit.
Ob Chinas Hunger nach Land damit wohl schon gestillt ist, fragen sich viele Russen im Fernen Osten. Misstrauisch beobachten sie den mächtigen Nachbarn. Die Boulevardpresse in Chabarowsk argwöhnt gar, dass Chinesen im Spätsommer die Staudämme geöffnet hätten, um das Land der Russen vorsätzlich zu fluten.
Ein Meter hoher Rampenunterschied
Die Menschen in Chabarowsk wirken abgerissen. Ihre Gesichter sind grob und verhärmt. Sie könnten Nachfahren jener Häftlinge sein, die im 19. Jahrhunderts hierher in Strafkolonien verfrachtet wurden. Auf dem Bahnhof wird die Einfahrt des Zuges nach Komsomolsk am Amur ausgerufen. Die Reisenden stürmen los, hasten mit dem Gepäck fünf Treppen hinauf zur Brücke, die zu den Bahnsteigen führt, und wieder hinab. Sie wuchten, stöhnen und schwitzen. An Rolltreppen ist nicht zu denken. Die „Plattform“, der Bahnsteig, liegt zu ebener Erde. Wer in den Waggon steigt, muss einen Meter Höhenunterschied überwinden. Kein Reisender nimmt daran Anstoß. Zivilisatorisch war der Ferne Osten nie eng mit dem russischen Kernland verwoben. Für das Zentrum blieb die Peripherie Kolonie. Darüber täuschen auch Großprojekte nicht hinweg, mit denen Moskau schubweise die Region nutzbar zu machen versuchte.
Das gigantischste Vorhaben wurde in den 1930er Jahren in Angriff genommen: der Bau einer zweiten West-Ost-Durchquerung des endlosen Raumes, der Baikal-Amur-Magistrale, kurz BAM, die vom Nordzipfel des Baikalsees bis an den Pazifischen Ozean führen sollte. Sie verläuft ein paar hundert Kilometer weiter nördlich fast parallel zur Transsibirischen Eisenbahn. Vordergründig war die BAM zur Entlastung der Transsib gedacht, tatsächlich ging es den Planern um strategische Überlegungen: Im Konfliktfall hätte China die einzige unmittelbar an der Grenze entlangführende russische Nachschubader kappen können.
Zwangsarbeitslager entstanden neben der geplanten Trasse. Das Unternehmen wurde jedoch nach Fertigstellung einiger Teilstücke Anfang der 1950er Jahre vorläufig eingestellt. Zwanzig Jahre später sollte der Weiterbau dann der lahmenden Begeisterung für den Sozialismus neuen Auftrieb verleihen. Hier auf der Großbaustelle sollte sich die Nation von Neuem erfinden. Sibirien war kurzzeitig Synonym für Zukunft geworden.
Das ewige Provisorium
Der Zug von Chabarowsk braucht eine Nacht bis Komsomolsk, der sozialistischen Musterstadt und Rüstungshochburg der dreißiger Jahre. Mit 35 Stundenkilometern zuckelt der Fortschritt durch die Taiga. An den Haltestellen warten Händler auf Lieferungen und fahren mit ihren Autos direkt an den Zug heran. Nur wenige Stationen besitzen befestigte Bahnsteige. Kaum jemand steigt zu, zu sehen sind überwiegend alte zahnlose Männer. Viele Häuser der Siedlungen entlang der Bahnstrecke stehen leer oder sind verfallen. Von acht Millionen Einwohnern im Fernen Osten sind seit dem Ende der Sowjetunion 1991 nach offiziellen Angaben zwei Millionen dem Leben im ewigen Provisorium entflohen.
Doch nicht jeder kann sich einen Umzug leisten. Die Jüngeren suchen unterdessen nach Lösungen, die früher nicht denkbar waren. Der 34-jährige Orthopäde Alexei hat mit Freunden in China eine Arztpraxis eröffnet. Es sei dort einfacher und billiger als in Chabarowsk, wo er nur noch eine Wohnung unterhalte. „Selbstständig in China ist inzwischen ein Trend“, sagt Alexei.
Alternativ zur EU
Derzeit ist ein neuer Wiederbelebungsversuch des Fernen Ostens im Gang. In Chabarowsk richtete der Kreml ein eigenes Ministerium für den Fernen Osten ein, und auch die russische Staatseisenbahn investiert wieder in die BAM. Hinter der Passhöhe in der Nähe von Wysokogornaja, das zwischen Komsomolsk und dem Pazifikhafen Vanino liegt, hat die russische Bahn einen neuen Tunnel durch das Sichote-Alin-Gebirge getrieben und Ausweichgleise anlegen lassen. Moskau will den Frachtverkehr ausbauen, um Russland stärker in den ostasiatischen Wirtschaftsraum zu integrieren – als Alternative zur EU.
Der mit Pomp eröffnete Tunnel und die Passhöhe sind nach Arsenij Kusnezow benannt, einem Bauingenieur des Stalinschen Geheimdiensts NKWD. Auch eine Bergstation trägt seinen Namen, und Wladimir Sujew, Direktor des BAM-Museums in Komsomolsk, führt ihn ehrfurchtsvoll im Munde. An den Tunnelausgängen schlängeln sich Treppen zu Wachtürmen hinauf. Stacheldrahtverhaue schirmen die Anlage ab. Das Grundmisstrauen gegenüber Peking ist hier – trotz Annäherung Moskaus – mit den Händen zu greifen. Auf diesem Humus gedieh der Heros des Grenzsoldaten.
Dass es Gulag-Häftlinge waren, die in dieser Wildnis buchstäblich Berge versetzten und zu Tausenden umkamen, streitet Sujew nicht ab, hört es aber nicht gern. „Wir wissen, wo jeder Tote liegt.“ Die Opferzahlen seien aus politischen Gründen übertrieben worden, meint der Bahnveteran. Er war einer jener Enthusiasten, die in den siebziger Jahren dem Lockruf des Sozialismus folgten und an die Baustellen der BAM zogen. Indem wir die Natur verändern, verändern wir uns selbst, hieß die Losung damals.
Marodierender Braunbär
Von Enthusiasmus ist in Wysokogornaja, dem beim Ausbau der Trasse besondere Bedeutung zukommt, nichts zu spüren. Die Straßen der Eisenbahnersiedlung sind nicht asphaltiert. Die Häuser gleichen Absteigen, die noch in der 1980er Jahren in tausend Meter Höhe als unverputzte Rohbauten hingestellt wurden. Angeheiterte Jugendliche hängen auf dem Spielplatz vor dem Bahnhof herum. Es gibt in dem 5.000-Seelen-Ort kein Kulturhaus, kein Kino, nicht einmal eine Disco. Die einzige Abwechslung ist der marodierende Braunbär, vor dem ein Aushang am Dorfladen warnt.
Den 29-jährigen Sergei hat es für drei Jahre hierhin verschlagen. Der Eisenbahner aus Chabarowsk muss sein Studium hier abarbeiten. Gefällt es ihm? Er lächelt gequält und erzählt von seiner schwangeren Frau. Soeben hat die Geburtsstation des Krankenhauses geschlossen. Auch andere Abteilungen könnten folgen, vermuten Umstehende. Wer einen Arzt braucht, muss eine Nacht mit dem Zug nach Komsomolsk fahren.
Nicht nur die Menschen zieht es fort, auch die Rohstoffe. Mehrmals täglich rollen kilometerlange, mit Holz beladene Güterzüge Richtung Vanino an der Küste. Das Holz wird hier oben in den Bergen geschlagen. „Nicht ein Rubel bleibt hier hängen“, schimpft der Kommunist Sujew. Er fühlt sich vom Staat verraten. Früher hätte der Ort sogar einen eigenen TV-Sender gehabt. Heute droht der Holzunternehmer den Forstarbeitern mit Entlassung, wenn sie höhere Löhne verlangen. Chinesen würden ihren Job übernehmen. Kapital kennt kein Vaterland.
Der Historiker Karl Schlögel hat den Fernen Osten als „Raum der Unzuständigkeit“ charakterisiert. Viele nutzen ihn, doch niemand trägt Verantwortung. Wirft er nichts mehr ab, wird er sich selbst überlassen. Unterdessen wird in Vanino der Hafen für die steigenden Exporte modernisiert. Zweihundert Hektar Hafengelände soll sich schon Gennadi Timtschenko gesichert haben – ein Oligarch und alter Freund Wladimir Putins.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“