Debatte Europa: Diese Krise ist keine Chance
In Berlin und Brüssel glauben viele, die EU werde gestärkt aus der Krise hervorgehen. Sie liegen falsch. Sie ist dabei, sich selbst abzuwickeln.
A uf den ersten Blick ist die Welt in Brüssel noch in Ordnung. Gerade erst hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhalten. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das Europaparlament mit einem Besuch beehrt. Alle haben höflich geklatscht. Und die EU-Kommission arbeitet wie eh und je: Fast täglich legt sie Vorschläge für neue Gesetze und einen Ausbau der EU vor – derzeit arbeitet sie an einer Großbaustelle namens Bankenunion.
Die Europäische Union wächst und gedeiht auch im fünften Jahr der Finanz- und Schuldenkrise. Gewiss, die Länder des Südens leiden. Doch um ihnen zu helfen, wurden neue Regeln wie der Fiskalpakt und neue Institutionen wie der dauerhafte Eurorettungsschirm ESM aus dem Boden gestampft. Bald wird es auch eine Finanzsteuer geben. Später, vielleicht schon bei den Europawahlen 2014, soll sogar ein Schuss mehr Demokratie dazukommen.
Dass die EU auch aus dieser Krise gestärkt hervorgehen werde, glauben daher viele in Brüssel und Berlin: Entscheidungen bräuchten eben Zeit, Reformen kämen immer nur langsam voran, vor allem, wenn Deutschland dauernd auf der Bremse steht. Doch ohne es zu wissen oder zu wollen – behaupten überzeugte Europäer wie der Grüne Daniel Cohn-Bendit oder der belgische Liberale Guy Verhofstadt –, treiben die EU-Chefs das europäische Projekt auch in der Krise voran.
Neoliberales Crashprogramm
„Wir brauchen Quantensprünge“, forderte Cohn-Bendit in der taz. Und er gab sich optimistisch: Sogar Merkel werde sich dem europäischen Fortschritt nicht in den Weg stellen. In der Zeit bescheinigte er ihr sogar, eine „Teilzeitrevolutionärin“ zu sein, die zur „Gründerin der Vereinigten Staaten von Europa“ mutieren könne.
Was für ein Irrtum!
Natürlich ist es richtig, dass Merkel & Co. noch vor zwei Jahren all das abgelehnt haben, was sie heute widerwillig aufbauen. Richtig ist auch, dass die neuen, aus der Not geborenen Instrumente die Möglichkeit bieten, sie auszubauen. Aus dem ESM könnte ein Europäischer Währungsfonds werden, aus der Finanzsteuer eine eigenständige Einnahmequelle für die EU, aus dem umstrittenen Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank eine Transferunion.
ist Korrespondent der taz in Brüssel.
Theoretisch ließe sich all dies mit gemeinsamen Staatsanleihen – den sogenannten Eurobonds – und einer demokratisch gewählten EU-Regierung zu einem neuen Ganzen ausbauen. Wenn man dann alles kräftig durchschüttelt und einen großen Schuss Dialektik hinzugibt, könnten sogar die „Vereinigten Staaten von Europa“ dabei herauskommen.
Doch wie sieht die Praxis aus? Merkel & Co. tun alles, um die Gemeinschaft zu schwächen und die Nationalstaaten zu stärken. EU-Kommission, Europaparlament und die Krisenländer sind entmachtet. Die Rettungsinstrumente sind so programmiert, dass sie die EU spalten, die Demokratie aushöhlen und die Konjunktur abwürgen. Der ESM wird dazu missbraucht, Südeuropa ein neoliberales Crashprogramm überzustülpen. Das Anleiheprogramm darf nur nutzen, wer sich mit Haut und Haaren den Dogmen von Privatisierung und Liberalisierung verschreibt. Und die Finanzsteuer kommt nur den Finanzministern zugute.
Merkel hält kurz
Merkel & Co. sträuben sich nicht nur dagegen, Brüssel eigene Steuern zuzugestehen. Sie wollen die Gemeinschaft auch auf Dauer kurzhalten, wie der Streit über das EU-Budget zeigt. Nicht einmal das Geld für den erst im Juni beschlossenen Wachstumspakt stellen sie bereit.
Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass die EU keineswegs von der Krise profitiert, wie manche hoffen. Vielmehr hat ihre Abwicklung begonnen, auch wenn dies natürlich niemand zugeben würde. Mittelkürzung und Renationalisierung sind zwei Seiten derselben Medaille.
Gleichzeitig nimmt ein neues, von Deutschland dominiertes Europa Gestalt an. Gemeinsam mit Finnland und den Niederlanden, aber gegen Frankreich, Italien und Spanien drückt Merkel der EU ihren Stempel auf. Das müsste nicht weiter schlimm sein, wenn sie es ernst meinte mit „mehr Europa“ und mehr Solidarität.
Gnadenloses Regime der Troika
Doch das ist Wunschdenken. Statt des erhofften großen Sprungs nach vorn hat die EU die größte Rolle rückwärts ihrer Geschichte gemacht. Unter dem gnadenlosen Regime der Troika, dessen Regeln von Berlin mitgeschrieben wurden und werden, findet ein breit angelegter Angriff auf den Wohlfahrtsstaat statt. In halb Südeuropa wird die Demokratie ausgehebelt – betroffen sind mit Griechenland, Spanien und Portugal ausgerechnet jene Länder, die mit dem EU-Beitritt endgültig der Diktatur entkommen wollten.
Cohn-Bendit und seine Mitstreiter blenden diese dunkle Seite aus. Sie halten sich nicht lange bei den aktuellen Nöten und Gefahren auf, sondern blicken lieber in die Zukunft, weit in die Zukunft. Das ist das Drama des überzeugten Europäers: Einerseits will er in der großen Krise eine Chance ausmachen, endlich ein neues, demokratisches und solidarisches Europa zu schaffen. Andererseits muss er hilflos mit ansehen, wie die EU immer mehr zu einem autoritären, neoliberalen Projekt verkommt.
Ich fürchte, dass wir dieses Drama erst dann überwinden werden, wenn wir uns von dieser EU und dieser Bundesregierung verabschieden und ein neues Europa jenseits der neoliberalen Eliten denken. Denn die alte Idee, dass die Wirtschaft Europa einen würde, hat sich in der Krise ebenso als fataler Irrtum erwiesen wie die neue, in Brüsseler EU-Zirkeln beliebte Theorie, dass „die Märkte“ eine europäische Föderation erzwingen. „Die Märkte“ können sehr gut mit einer schwachen EU leben, solange nur die Schulden bedient und die Banken geschont werden – das haben die letzten Jahre gezeigt.
Wir brauchen ein anderes Europa, eine EU 2.0, die die Geburtsfehler der alten Union – die einseitige Fixierung auf den Markt und die elitäre Aushebelung der Demokratie – beendet. Aufrufe zur Umkehr gibt es bereits viele. Es wird Zeit, sie in die Tat umzusetzen. Denn die heile Welt der EU ist nur Fassade. Dahinter bröckelt es gewaltig.
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