Chancengleichheit in Schulen: Leistung und Fairness
Eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung entdeckt, dass deutsche Schulen kreuzungerecht sind. Besonders ungerecht: Bildungserfolg ist von der Herkunft abhängig.
BERLIN taz | Mit der Gerechtigkeit ist es in Deutschlands Schulen so eine Sache: Seit Ende 2001, als die erste Pisa-Studie erschien, weiß man, dass das Schulsystem Bildungs- und Lebenschancen extrem ungleich verteilt. Dennoch war das für die Kultusminister nie ein Megathema. Damit dürfte es nun mit dem „Chancenspiegel“ der Bertelsmann-Stiftung vorbei sein: Ausgerechnet die Gütersloher Stiftung und Milliardenkonzernmutter will den Finger nicht mehr aus der Wunde nehmen.
„Wir können es nicht hinnehmen, wenn Bildungserfolg in erheblichem Maße von der Herkunft abhängig ist“, sagte der Vorsitzende der Stiftung, Jörg Dräger. Der Chancenspiegel soll ab sofort regelmäßig Leistung und Fairness des deutschen Schulsystems prüfen.
Die erste Bestandsaufnahme über Gerechtigkeit und Leistung im deutschen Schulwesen bringt ein neuerliches Desaster ans Licht: Auf 190 Seiten und in 75 Tabellen zerpflücken die Autoren Wilfried Bos, Nils Berkemeyer und Veronika Manitius das Schulwesen und finden relativ wenige Stärken und sehr viele Schwächen. Der Kernsatz lautet: „Die deutschen Schulsysteme sind nach oben zu wenig durchlässig, […] es gibt mehr Abwärts- als Aufwärtswechsler.“
Schon in der Grundschule driften die Leseleistungen zwischen den Bundesländern weit auseinander. Schlechte Schüler desselben Jahrgangs hinken den guten in ihrem Wissen mancherorts um zwei Jahre Lernstoff hinterher. Vor allem die östlichen Bundesländer schicken im Schnitt 12 Prozent ihrer Schüler ohne Abschluss nach Hause. In den Städten konzentrieren sich Bildungsverlierer, ihre Leseleistung ist erschütternd schlecht.
Bildungsforscher kritisiert: “Wir sind doch nicht in Uganda"
Wilfried Bos, ein Bildungsforscher mit proletarischem Gewissen, kann so etwas richtig in Rage bringen. „Das darf nicht sein“, sagte Bos, „wir sind doch nicht in Uganda, sondern in den Metropolen eines Industrielandes“. Das ist freilich nicht neu. Neu ist, dass sich auch Bertelsmann-Vorstand Dräger über Bildungsarmut empört. Dräger ist richtig sauer auf seine ehemaligen Kollegen Kultusminister, weil sie wichtige Daten für den Chancenspiegel nicht rausgeben wollten.
„Ländervergleiche wollen sie nicht, Chancengerechtigkeit schon gar nicht“, beschwerte sich der Exwissenschaftssenator. Dass er selber einst in der Runde der Kultusminister saß und nicht widersprach, als seine Kollegen die Veröffentlichung von Gerechtigkeitstabellen schlicht untersagten, tut ihm heute leid. „Ich war nicht der Einzige, der dem Trugschluss aufsaß, dass es vor allem um Leistung geht“, bekannte Dräger bei der Vorstellung der Studie Mitte der Woche.
Wie gruselig es mit dem deutschen Schulsystem bestellt ist, lässt sich vielleicht am besten an den Förderschulen ablesen, die stets gerühmt werden für ihre famose Förderkultur.
Es gibt kaum einen Ausweg aus der Förderschule
Die Realität sieht so aus: Wer einmal in einer solchen Schule gelandet ist, der kommt da praktisch nicht mehr raus. Zwischen 0,5 und 3,8 Prozent liegen die Quoten der Aufsteiger ins allgemeine Schulsystem, allein Bremen sticht mit 7,9 Prozent heraus. Allerdings zeigt das Bremer Schulsystem so bedrückende Leistungswerte, dass man es guten Gewissens als Sonderschule der Nation bezeichnen könnte.
Der einzige Schönheitsfehler, den die Studie hat, ist ihr programmatischer Untertitel: „Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit des deutschen Schulsystems“. Der Begriff „Chancengerechtigkeit“, den die Bertelsmänner da verwenden, ist mindestens schillernd. Erfunden haben ihn Ende der 1970er Jahre Parteistrategen der CDU, um den Sozialdemokraten das erfolgreiche Label „Chancengleichheit“ kaputt zu machen.
Artzsohn aufs Gymnasium, Migrantenkind zur Hauptschule
„Chancengerechtigkeit“ hört sich für Otto Normalverbraucher erst mal gut an. Freilich verwenden Christdemoraten den Begriff gern so: Gerecht ist, wenn Ali und Justin aus den Migrations- und Hartz-IV-Familien ihre Schulform besuchen – die Hauptschule. Und dass Arztsohn Leon mit sechsfacher Wahrscheinlichkeit aufs Gymnasium geht, ist ebenfalls chancengerecht – und das auch, wenn Ali und Justin die gleichen Leistungen erbringen.
Für Qualität und Unabhängigkeit des Chancenspiegels steht am Ende allein Wilfried Bos. Er kann jetzt „in Ruhe arbeiten und ohne Fremdeinflüsse schreiben“, sagte er.
Und so lesen wir im ersten Chancenspiegel diesen Satz: „Der Zwang zur Selektion ist aus pädagogischer Perspektive eine grundsätzliche Zumutung.“ „Selektion“ – Jörg Dräger würde ein so ungerechtes und hartes Wort niemals über die Lippen kommen.
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