Beratungsstelle abgewickelt: Keine Hilfe für Männer
Zweieinhalb Jahre konnten sich Missbrauchsopfer in der Kieler Männerberatungsstelle helfen lassen. Zum 1. Januar musste sie schließen. Keine der im Landtag vertretenen Parteien setzte sich für sie ein.
KIEL taz | Ein Mann kam von der Westküste, von einer der dortigen Inseln – es sei für ihn jedes Mal eine Tagesreise bis nach Kiel gewesen. Andere reisten aus den umliegenden Landkreisen an, manche kamen auch aus der Landeshauptstadt selbst: Männer, oftmals im Alter von 40, 50 oder 60 Jahren, die in ihrer Kindheit, Jugend oder auch später Opfer sexuellen Missbrauchs geworden waren, etwa auch in den berüchtigten Kinderheimen ihrer Zeit. Hilfe fanden sie nun unter dem Dach des Kieler Frauennotrufes.
Alles begann damit, dass sich in den letzten Jahren zunehmend Männer bei der sogenannten Kieler Helpline für weibliche Gewaltopfer meldeten. „Wir fanden es bedrückend, die nicht zu beraten; wir hatten aber auch niemanden, an den wir weiterverweisen konnten und es ist ja nicht so, dass jeder niedergelassener Therapeut zu diesem Thema arbeitet oder dazu beraten kann – mal abgesehen von Wartezeiten von bis zu einem Jahr“, sagt Sigrid Bürner, Leiterin des Kieler Frauennotrufs.
Das sollte so nicht bleiben: „Wir haben uns mit Fachleuten ausgetauscht, ein Konzept entwickelt und uns auf die Suche nach Geldgebern gemacht“, sagt ihre Kollegin Andrea Langmaack. Bald neu im Team: der Psychologe Florian Krampen. „Wir beraten Männer, die sexuell missbraucht worden sind und die darüber oft über Jahrzehnte hinweg nicht gesprochen haben, geschweige denn, dass sie das Erlebte bearbeiten konnten. Und das ist dann nicht mit drei Gesprächen abgetan“, sagt Krampen. „Wenn man davon ausgeht, dass fünf bis zehn Prozent aller Männer ab dem 16. Lebensjahr sexuellen Missbrauch erfahren mussten, kommen wir in Schleswig-Holstein auf 60.000 bis 120.000 Männer mit einem möglichem Beratungsbedarf.“
Was von Anfang an auch zu den Aufgaben der Männerberatung zählte – Gelder zu akquirieren, denn es war klar, dass der Anschubfinanzierung durch eine private Stiftung eine Weiterfinanzierung durch private Geldgeber oder durch das Land Schleswig-Holstein folgen müsste.
Die Kieler Beratungsstelle für Männer mit Missbrauchserlebnissen entstand 2012 als Ableger des Kieler Frauennotrufs.
Finanziert wurden über die Lottostiftung zunächst Räume sowie die Personalkosten für eine 35-Stunden-Stelle, die sich ein Psychologe (20 Stunden) sowie zwei Psychologinnen (zehn plus fünf Stunden) teilten.
Als die Mittel nach zwei Jahren aufgebraucht waren, unterstützte das Land Schleswig-Holstein über den Nachtragsaushalt 2014 für ein halbes Jahr die Weiterarbeit.
Im aktuellen Nachtragshaushalt für 2015 wurde es nicht aufgenommen, da sich keine der im Kieler Landtag vertretenen Parteien für die Beratungsstelle einsetzte.
Die nächste Beratungsstelle für erwachsene Männer, die Missbrauch erleben mussten, befindet sich nunmehr in Berlin. FRANK KEIL
„Wir wollen überhaupt nicht ausschließen, dass im Land jemand arbeitet, der für diese Problematik ein gutes Gespür hat oder dass ein Pastor vor Ort hilfreiche Gespräche führen kann. Aber das ersetzt keine landesweite Fachberatung mit einem spezialisierten, traumaorientierten Angebot, wie wir sie bieten“, begründet Sigrid Bürner das Alleinstellungsmerkmal der Kieler Beratungsstelle.
„Wir haben uns im Landtag allen Fraktionen vorgestellt und es gab nun niemanden, der gesagt hat: ’Beratung für Männer? Was soll das denn?‘ Aber im Endeffekt ist nichts dabei herumgekommen“, sagt Bürner. Und Krampen ergänzt: „Bei unseren Gesprächen war immer wieder bei Einzelnen sehr deutlich zu spüren, dass wir sie mit unserem Anliegen erreichen konnten – aber es ist offenbar niemandem gelungen, auch seine Fraktion für uns zu gewinnen.“
Denn als kurz vor Jahresende im Kieler Landtag der Nachtragshaushalt für 2015 auf dem Tisch lag, stand die Beratungsstelle nicht einmal auf der Tagesordnung – im Gegensatz zum Nachtragshaushalt für 2014, wo der Beratungsstelle recht unkompliziert eine halbjährige Weiterfinanzierung zugestanden worden war. Das Überleben gesichert hätten ihr gerade einmal 65.000 Euro.
„Das Sozialministerium sieht selbstverständlich Bedarf an Unterstützung und Beratung für Opfer sexueller Gewalt beiderlei Geschlechts“, schreibt dazu der Pressesprecher des Sozialministeriums Frank Strutz-Pindor. Und ergänzt: „Solche Beratungsangebote für Jungen und Mädchen bzw. Männer und Frauen bestehen in Schleswig-Holstein ja auch. Es würde der Arbeit anderer Beratungsstellen Unrecht tun, zu suggerieren, dass diese Angebote die Anliegen erwachsener männlicher Opfer sexueller Gewalt ausblenden.“
Angehängt ist der Stellungnahme daher eine zunächst beeindruckende Liste von immerhin 51 Anlaufstellen für Hilfen bei erlebtem sexuellen Missbrauch in Schleswig-Holstein – von Flensburg über Husum bis Lübeck. Doch nimmt man diese genauer unter die Lupe und sortiert aus, wer ausschließlich für Frauen oder für Jungen und Mädchen zuständig ist, bleiben zuletzt zwei Beratungsangebote übrig, die explizit erwachsenen und eben oft älteren Männer direkten Rat und Hilfe anbieten: UNA-Wendepunkt e.V., eine Beratungsstelle für Männer, die in Einrichtungen der Nordkirche missbraucht worden – und die Kieler Männerberatungsstelle, deren Ende nun bevorsteht.
Dabei ist diese auch in anderer Hinsicht ein Modellprojekt: Die sonst so klaren Sphären zwischen Frauen- und Männerberatung wurden einmal aufgehoben. „Als Herr Krampen zu uns ins Team kam, hat das sehr schnell sehr gut gepasst und es hat auch uns als beratende Frauen sehr bereichert“, sagt Sigrid Bürner. Andrea Langmaack gesteht: „Am Anfang hatten wir eher die Vorstellung, er kommt, macht seine Beratungen und geht dann wieder.“
Stattdessen seien sie fix zu einem soliden Team zusammengewachsen, wo man sich gegenseitig trage. Und sie setzt mit Nachdruck hinzu: „Eigentlich ist es eine Erfolgsgeschichte.“ Krampen hat sich unterdessen beim Kieler Arbeitsamt gemeldet.
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