Bachmann-Preis 2014, der 2. Tag: Esoterikkitsch und rennende Kühe
Noch bis Sonntag konkurrieren Schriftsteller in Klagenfurt um den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Jury spart nicht mit Kritik.
KLAGENFURT taz | Es ist heißer und kaum weniger los als am vorigen Tag. Gerangel um die Sitzplätze im Klagenfurter ORF-Theater. Eine Journalistin drängt sich genervt durch die volle Pressereihe und prüft, ob denn auch alle, die hier sitzen, tatsächlich zur Presse gehören. Auch die Jury diskussionsfreudiger heute. Das hat einen Grund: Das Losverfahren sorgte dafür, das einige experimentellere Textformen und Vorträge an der Reihe sind. Ein Grund zur Freude für Liebhaber des Unkonventionellen? Nur bedingt.
Den Auftakt macht um 10 Uhr Anne-Kathrin Heier, geboren 1977 in Werne. „Ichtys" heißt ihre wirre Großstadterzählung, die voller Uneindeutigkeiten vom Drogenentzug einer Berliner Protagonistin berichtet. Eine Bühne wird betreten – die des Bachmannpreises? Eine Geisel wird genommen – Hörer und Leser? Jemand sage ihr, sie solle das „ich" nicht verwenden – die Jury? Man ist berauscht von Heiers opulenten Sprachbildern, aber auch ziemlich ratlos. Ein Schlüsselsatz zum stilistischen Eindruck könnte lauten: „Ich gab mich als ein nüchternes Wesen aus, das in den Straßenbelag schnäuzt und auf Kontakte keinen Wert legt.“
Jurorin Hildegard Keller, Literaturprofessorin in Bloomington und Zürich, zeigt sich entsetzt: „Es ist ein ziemliches Wagnis, mit einem erzählerisch wie sprachlich so schwachen Text an diesem Wettbewerb teilzunehmen.“ Das sitzt.
Meike Feßmann erkennt derweil zu viel „Kunstwillen“ in dem Text, es komme zu einem „Overkill der Prätentionen“. Hubert Winkels droht die Veranstaltung zu verlassen, wenn Jury-Kollege Arno Dusini ihm nochmal ins Wort fallen sollte und Dusini warnt seine Kollegen davor, die Autorin persönlich mit dem Text zu identifizieren. Man solle doch bitte von der Erzählinstanz sprechen.
Allein Kurator Juri Steiner zeigt sich von Heiers Text begeistert, hätte noch „stundenlang zuhören“ wollen. So höre sich eben, so Steiner, ein Mensch des 21. Jahrhunderts an.
„Literarischer Missbrauch“
Es folgt das extreme Gegenteil zu Heier: die sehr gemächliche und gefühlige Erzählung von Birgit Pölzl, geboren 1959 in Graz. Eine Frau verliert ihr Kind – es wird vom Vater überfahren – und begibt sich zur Trauerarbeit nach Tibet. (Schlüsselsatz: „Die Stille kann sich ausbreiten, sie ist nicht auf dem Sprung, die Stille kann in die Fersen gehen, in die Knie.“)
„Esoterikkitsch" nennt Jurorin Meike Feßmann das, und sieht in dem sachlich unzureichend ausgeführten Kindestod einen „literarischen Missbrauch“. Burkhard Spinnen bevorzugt es, den Text als „Stillleben“ zu betrachten.
Eine deutlich modernere Form bietet Senthuran Varatharajah, geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka. „Von der Zunahme der Zeichen“ ist ein mit philosophischen und literarischen Zitaten gespickter Facebook-Dialog. Eine Kosovo-Albanerin und ein Tamile, beide Studenten und einst als Asylbewerber nach Deutschland gekommen, tauschen in einer eigentlich Facebook-untypischen Sprache ihre traumatischen Erfahrungen in Bezug auf Herkunft, Familie und Glauben aus. (Schlüsselsatz: „die gegenstände, die wir berühren, berühren uns an stellen zurück, an denen wir taub für sie sind.")
Zu wenig Ehrlichkeit sei in dem Text, meint Jurorin Daniela Strigl, so schreibe keiner auf Facebook. Außerdem scheine der Dialog vielmehr ein Wettbewerb zweier Gezeichneter zu sein, und zwar darum, wer die schlimmere Kindheit hatte.
Burkhard Spinnen stimmt dem zu und meine, man stumpfe ab bei all den neuen Einwanderergeschichten, die immer nur von schrecklichen Ereignissen berichteten. Sprachlich, so Spinnen, höre es sich so an, als habe der männliche Protagonist sein Deutsch auf einer einsamen Insel von Hegel gelernt.
Meike Feßmann, die Varatharajah nach Klagenfurt eingeladen hat, hört aus Spinnens Kommentar eine kulturelle Überheblickeit heraus. Arno Dusini dagegen, selbst Professor für Literatur, meint, er würde sich wünschen, seine Studenten drückten sich wie Hegel aus, und lobt, dass der Text sich nicht „vor dem hohen Turm“ fürchtet.
Beeindruckende Performance
Noch mehr Formbedenken äußert die Jury bei der Lesung von Michael Fehrs „Simerliberg". Der Autor, geboren 1982 in Gümlingen bei Bern, kommt aus der Spoken-Word-Szene und trägt seinen Text dementsprechend vor. Er liest nicht, er hört seinen in Verse gebrochenen Schweizer Berg-Krimi über einen Kopfhörer, und wiederholt das Gehörte laut und melodisch vor dem Publikum. Er sitzt nicht, er läuft umher und gestikuliert.
Als Performance ist es beeindruckend, aber kann der auf phonetische Reize getrimmte Text in geschriebener Form allein überzeugen? (Schlüsselsatz: „[...] ein wüstes/ tristes Bauernhaus mit ungestümem Dach/ ein zerklüfteter Haufen aus grauen und schwarzen Tupfen/ unter dem ein Haufen blinder Fenster leer in die Öde starrt [..].")
Meike Feßmann meint: Der geschriebene Text überzeugt nicht. Dusini und Spinnen sehen das ähnlich, wenngleich ihnen der Auftritt gefiel. Auch wenn Fehr sicher nicht zu den diesjährigen Favoriten gehört, so entzündet sich an ihm eine interessante Jurydiskussion darüber, was Literatur ist. Mit dem Erblühen der Spoken-Word-Szene gehe derzeit doch eine Re-Oralisierung der Literatur vor sich. Ob man in den kommenden Jahren multimediale Werke beim Bachmannpreis berücksichtigen sollte? Zu einer Antwort kann es in der kurzen Zeit nicht kommen.
Bei Romana Ganzoni, geboren 1967 in Scuol, ist es dann der Vortrag, der laut Jury den Text kaputt macht. In „Ignis Cool" bleibt eine junge Frau in ihrem Auto auf einem Pass stehen und lässt eine abgründige Mutter-Tochter-Beziehung Revue passieren. Am Ende versucht sie ihre imaginäre Mutter zu töten und begeht dabei wohl – das bleibt offen – Selbstmord. (Schlüsselsatz: „Bruna hätte sich nie und nimmer einen Wagen leisten können als Abbrecherin von allem, was man privat und öffentlich abbrechen kann.“)
Ganzoni habe beim Lesen jeden ihrer Sätze gefeiert, kritisiert Spinnen. „Wie kann mal als Autorin die eigene Figur so missverstehen?" fragt er. Außerdem sei es nicht richtig, dass Kühe nicht rennen können, wie im Text behauptet werde. „Ich habe mir als Kind sehr viele Western angeschaut. Und wissen Sie, was ich da gesehen habe? Kühe, die rennen und rennen und rennen..."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen