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Kultusminister wollen schummelnWertloser Abschluss für Sonderschüler

Der Bund hat versprochen, die Schulabbrecherzahl zu halbieren. Die KMK weiß, wie: Sie will Sonderschülern einen wertlosen Abschluss zuweisen, um die Statistik zu schönen.

In der Grundschule haben Sonderschüler noch eine Chance auf Integration - danach wird streng selektiert. Bild: ap

BERLIN taz Jan zum Beispiel könnte einer jener Schüler sein, wie ihn die Kultusminister vor Augen haben. Bislang geht der 12-Jährige in eine integrative Schule in Brandenburg. Allerdings naht die sechste Klasse, und in der siebten Klasse gibt es in Jans Nähe keine "Schule für alle" mehr. Auf eine stinknormale Regelschule wollen Jans Eltern ihn nicht schicken. Er leidet an epileptischen Anfällen und kann nicht gut sehen.

Aber eine Sonderschule kommt für sie ebenfalls nicht in Frage. Denn dort wären die Chancen des Jungen, der in Mathe besser ist als mancher nichtbehinderter Mitschüler, viel schlechter. In einer Sonderschule werde er nicht gefördert und habe so gut wie keine Chance auf einen Schulabschluss, sagen sie.

Da liegen Jans Eltern statistisch richtig. Acht von zehn Sonderschülern schaffen keinen Abschluss. Sie erhalten eine Art Anwesenheitsbestätigung, die aber kein zählbares Zertifikat ist. Sie werden bislang als Schulabbrecher gezählt.

Damit soll nach dem Willen der Kultusministerkonferenz (KMK) nun Schluss sein. Auf ihrer 325. Plenarsitzung ab dem morgigen Donnerstag wollen die Schulverantwortlichen den derzeit 408.000 deutschen Sonderschülern helfen - allerdings nicht durch besseren Unterricht, ausgeklügelte Fördermaßnahmen oder gar die Auflösung der Förderschulen, wie die Vereinten Nationen es verlangen.

Ausgesperrt

Seit 1. Januar gilt die UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen in Deutschland. Darin wird verlangt, "Menschen mit Behinderungen nicht vom allgemeinen Bildungssystem auszuschließen". Das bedeutet: Deutschland muss die Quote der Sonderschüler sukzessive auf null drücken - eigentlich.

Tatsächlich ist man in den Bundesländern davon weit entfernt. In Schleswig-Holstein gehen 3,5 Prozent der Schüler in sogenannte Förderschulen, in Thüringen und Sachsen-Anhalt 8 Prozent, Spitzenreiter ist Mecklenburg-Vorpommern mit 8,6 Prozent Sonderschülern. In Deutschland müssen 408.000 Kinder aufgrund eines Gutachtens in Sonderschulen. Damit sind vier von fünf behinderten Kindern aus dem allgemeinen Schulsystem ausgesperrt. CIF

Die Kultusminister werden kurzerhand an der Statistik tüfteln und den L-Abschluss für Lernbehinderte aufwerten. "Ich möchte nicht, dass der Abschluss eines Förderschülers als Schulabbruch gilt", bestätigte der Präsident der Kultusminister, Henry Tesch (CDU), der taz.

Die Sonderschüler sollen künftig "differenzierter erfasst und dokumentiert werden". Was bedeutet das? "Die Abgängerinnen und Abgänger der verschiedenen Förderschularten sollen mit Blick auf die statistische Erfassung", heißt es im besten KMK-Deutsch, "einberechnet werden können".

Sie werden, so steht in dem der taz vorliegenden Beschlusspapier, "nicht mehr mit dem Etikett 'Abbrecher' versehen." Das bringt den Sonderschülern real gar nichts - bereinigt aber schlagartig die Schulabbrecherstatistik.

Proteste bei Gewerkschaftern und Pädagogen

Bei Gewerkschaftern und Forschern herrscht helle Aufregung. "Ich halte das grundsätzlich nicht für sinnvoll", sagte die Sonderschulexpertin Lisa Pfahl vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. "Es ist nicht zielführend, um Schüler von Sonderschulen besser auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Dies könnte nur gelingen, wenn man die Sonderschulen auflöst und ihre Schüler in ein inklusives Schulsystem einbezieht."

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft schrieb dem KMK-Präsidenten einen bösen Brief. "Die GEW spricht sich mit Nachdruck dagegen aus, einen noch niedrigeren Schulabschluss als den Hauptschulabschluss einzuführen", heißt es darin. Die Minister sollten der Öffentlichkeit besser erklären, mit welchem Geld und echten Födermaßnahmen sie Schulabbrechern helfen will.

Tatsächlich dürften die Schulabbrecher der Anlass für die Statistiktricks der Kultusminister sein. Von Europa zu Maßnahmen gezwungen, beschlossen Bundesregierung und Bundesländer zuletzt beim Bildungsgipfel im vergangenen Oktober, die Zahl der Absolventen ohne Schulabschluss zu halbieren.

Bereits im Herbst hatten Experten gewarnt, dass dies unmöglich sei, wenn man nicht die Sonderschulen refomiere. Denn von 80.000 deutschen Schulabbrechern jährlich stammt die Hälfte von den Sonderschulen. Die andere Hälfte verlässt Haupt-, Real- und Oberschulen ohne zählbaren Abschluss. "Mit Blick auf die Verringerung der Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss", heißt es in dem Ministerpapier, "ist eine differenziertere Darstellung der Zielgruppen [der Sonderschularten, Red.] erforderlich."

Das Frisieren der Abbrecherstatistik hat für die Kultusminister viele Vorteile: Sie könnten schon im nächsten Jahr und nicht erst wie geplant 2012 die Aktion "Halbierung der Schulabbrecher" als Erfolg verkaufen. Obendrein würde es sie praktisch kein Geld kosten - sondern nur zwei statistische Datenblätter mehr. Der Entwurf für die neue Zählweise liegt der taz ebenfalls vor.

Kürzlich erst sollte der Standard für Hauptschüler sinken

Diese Maßnahme passt in die Politik der Kultuschefs. Es ist kein halbes Jahr her, da wollten die Minister die Leistungsanforderungen für die etwa 900.000 deutschen Hauptschüler absenken - und sie so von den allgemeinen Bildungsstandards abkoppeln. Nun werden die berüchtigten L-Abschlüsse der Sonderschulen für Lernbehinderte praktisch zu einem neuen Zertifikat aufgewertet.

Faktisch heißt das, unterhalb von Abitur, Mittlerer Reife, qualifizierendem und einfachen Hauptschulabschluss einen weiteren Abschluss einzuführen. Es wäre ein Persilschein für Jugendliche aus Sonderschulen, der nicht ihnen hilft, sondern den Kultusministern: Sonderschüler landen dann nicht mehr im Töpfchen "Abbrecher".

Aber die Zahlentricks wären auch ein hübsches Geschenk des neuen KMK-Präsidenten Henry Tesch an sich selbst. Das Bundesland, aus dem er kommt, Mecklenburg-Vorpommern, steht unangefochten an der Spitze mit seinen Sonderschülerquoten. 8,6 Prozent seiner Schüler lässt Minister Tesch inzwischen in so genannte Förderschulen verweisen.

Manches Kind in Schwerin, Rostock und Greifswald kommt direkt vom Kindergarten in jene Schulform, die es nach dem Willen der Vereinten Nationen eigentlich nicht mehr geben dürfte. Auch Deutschland hat die entsprechende UN-Konvention unterzeichnet, sie ist seit Januar 2009 gültiges Völkerrecht - selbst in Mecklenburg und Vorpommern.

Tesch geht andere, flexible Wege. Die Neudefinition und statistische Erfassung der Sonderschulabschlüsse nennt er "flexible Schulausgangsphase".

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9 Kommentare

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  • IM
    ICordula Müller

    Liebe Frau Reile- Göbel,hier geht es doch nicht um wer wann wo aufgefangen wird und welcher Schüler in welcher Regelschule untergegangen ist.

    Das Thema Ist die ratifizierte UN Konvention mit all ihren Folgen für unser aussonderndes Schulsystem.

    Jeder !!! Lehrer sollte seinem Auftrag entsprechend JEDEN Schüler fördern WOLLEN und KÖNNEN unter GEEIGNETEN Rahmenbedingungen.

    Und das ein Förderschüler besser lernt im Gemeinsamen Unterricht ist längst belegt und NICHT mehr die Frage.

    Das Problem der Förderschulen ist doch die geballte Einseitigkeit der Förderschwerpunkte und damit die nichtvorhandene Vielfalt, die es in unserer Gesellschaft gilt, zu verbessern, daß eben genau das passiert, was SIE ansprechen . Respekt und Akzeptanz von Anderssein und Andersaussehen. Das gilt es , unserer Gesellschaft BEIZUBRINGEN!! Dann haben wir keine Probleme damit, daß Schülerxy nicht akzeptiert wird, weil er aus einer Gegend kommt, in der NUR Hartz 4 Empfänger leben, dann hat Schülerxy kein Problem, weil er noch Windeln trägt-weil es DANN FÜR JEDERMANN NORMAL IST; MIT ALLEN MENSCHEN ZUSAMMEN ZU LERNEN UND ZU LEBEN!!!!!

    Elterninitiative Bornheim Gemeinsamer Unterricht und P:S. Herr Füller weiss, wovon er redet und nimmt als einer der Wenigen eben nicht DIE HAND VOR DEN MUND:wie ich übrigens auch

  • ER
    Eva Reile-Göbel

    Weiß Herr Füller überhaupt wovon er schreibt? Meint er etwa, die 8 von 10 Sonderschülern, die keinen Abschluss erhalten, könnten einen erwerben, wenn sie in der Regelschule verblieben? Wie kommt er zu der Behauptung, an den Förderschulen gäbe es keine Förderung, würden die SchülerInnen von Bildung ferngehalten? Ist er wirklich der Meinung, durch die Abschaffung von Förderschulen gäbe es keine Diskriminierung von beeinträchtigten Menschen mehr?

    Das Problem ist viel zu vielschichtig, als es derart primitiv, wie in der taz geschehen, abzuhandeln. Für jedes „Fallbeispiel“, das Füller für Bildungsverhinderung an Förderschulen bringt, könnte ich ihm welche über die Zerstörung von Kinderpersönlichkeiten an der angeblich so tollen Regelschule berichten.

  • MG
    Manfred Göbel

    Nur um es als Information mal festzuhalten: Förderschulen gehören zum „allgemeinen Bildungssystem“ dazu. Sie orientieren sich an den individuellen Bedürfnissen und Stärken ihrer SchülerInnen. Dass diese stigmatisiert und diskriminiert werden, liegt nicht an der Schule, die sie besucht haben, sondern eher daran, wie in unserer Gesellschaft mit Abweichungen, Anderssein und Beeinträchtigungen umgegangen wird.

    Ein gemeinsamer Unterricht aller Kinder erfordert ein grundlegend anderes Bildungsverständnis. Akzeptanz von Unterschieden, individuelle Entwicklung und Abschied von vergleichender Leistungsbewertung sind unerlässlich – das lässt sich aber nicht so einfach verordnen oder organisieren. „Inklusion“ im existierenden deutschen Schulaufbau bedeutet eine Katastrophe für „8 von 10 Sonderschülern“. Die gnadenlos oberflächliche, einseitige und in einigen Aspekten schlicht falsche Darstellung der Problematik in diesem Brennpunkt ist für die taz und ihren Anspruch nur peinlich – oder glaubt ihr wirklich ernsthaft, dass der Verzicht auf „Abschiebung in die Sonderschule“ quasi automatisch einen Schulabschluss garantiert? Diese wirklich wichtige Diskussion erfordert fundierte und qualifizierte Beiträge und nicht solche, die die (gegenwärtige) Situation der Betroffenen noch verschlimmert.

  • S
    Saftladen

    Das ist doch derzeit gängige Praxis!

    So wird die Unfähigkeit des Ministeriums auf ein erträgliches Niveau gehoben.

     

    Ganz nach dem derzeitigen Regierungsmotto:

    "Kostet mehr, bringt weniger und lassen wir uns dafür noch feiern!"

     

    Meine persönliche Meinung dazu, so eine Regierung braucht wirklich kein normaldenkender Mensch!

     

    Ab zu den Talibans mit Merkel und Co.

  • V
    vic

    Wir kennen das von Arbeitslosenstatistiken. Sie ändern nicht etwas das Verfahren, oder geben den Leuten Perspektiven. Nein, sie zählen nur etwas anders bisher.

  • A
    Arminius

    Was mischt sich die UNO eigentlich in das deutsche Schulsystem ein? Gibt es auf der Welt nicht Schlimmeres zu bekämpfen?

  • H
    hagvtr

    Wäre es nicht viel besser, die KMK inklusive Hr. Tesch in eine Sonderschule einzuweisen, vielleicht schaffen ja sogar einige den Hauptschulabschluß...

  • KK
    Karl Kraus

    Neinnein! Das hat schon alles seine Richtigkeit: Die Zahl der SchulabbrecherInnen soll halbiert werden. Man könnte ja - noch einfacher - einfach durch zwei teilen, aber dieses letzte Fitzelchen an Blödheit weist das deutsche Volk noch nicht auf, dass es da nicht kurz stutzen könnte. Also: So lange man nicht-normgerechte Kinder noch nicht ganz wegsperren darf, macht man es so. Das spart toll viel Geld, von dem wir ja alle dann auch etwas haben. Ich liebe unsere Politiker.

     

    Verliebte Grüße,

    euer Karl

  • G
    gultimore

    Ist doch gang und gebe solche Tricks durchzuführen, damit die Statistik geschönt wird.

     

    So hat Bremen seit langem kein Schüler mehr, die Sitzenbleiben. Eine Freude für die Statistik.

    Dies kommt aber nicht daher, dass die Schüler auf einmal viel schlauer sind, sondern weil Lehrer diese Versetzen müssen.

     

    Erst im Schuljahr können Lehrer Schüler ein Jahr zurückversetzen, falls festgestellt wird, was der Lehrer eh eigentlich vorher weiß. Ist ja aber kein Sitzenbleiben.