Sozialrechtlerin über Langzeitarbeitslose: „Ein gigantischer Niedriglohnsektor“
Die Sozialrechtlerin Helga Spindler spricht über die Pläne des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für Langzeiterwerbslose und sinnvolle Arbeitsmarktkonzepte.
![](https://taz.de/picture/186556/14/langzeitarbeitslose.jpg)
taz: Frau Spindler, im letzten Jahr hat die Bundesregierung die Gelder für 1-Euro-Jobs massiv zusammengestrichen. Jetzt haben der Paritätische Wohlfahrtsverband und der FDP-Abgeordnete Pascal Kober ein Konzept vorgelegt, wonach der zweite Arbeitsmarkt mit bis zu 200.000 zusätzlichen Stellen für Langzeiterwerbslose wieder massiv ausgeweitet werden soll. Ist das ein Versuch der Arbeitslosenindustrie, Boden zurückzugewinnen?
Helga Spindler: Zumindest haben Wohlfahrtsverbände mehrere Seelen in ihrer Brust. Eine Reihe ihrer Mitglieder sind in der Beschäftigungsförderung tätig, sie leiden unter der aktuellen Arbeitsmarktpolitik. Die Verbände müssen für ihre Mitglieder neue Finanzierungsmöglichkeiten erschließen. Aber mit diesem Konzept ist der Paritätische auf dem Holzweg.
Warum?
Bisher liegt ja nicht viel mehr als ein zweiseitiges Papier vor. Das lässt viele Fragen offen, spricht aber dennoch schon von „Werbung für das Konzept im politischen Raum“. Nicht mal die Lohnhöhe ist derzeit geklärt. In einer Beispielrechnung ist von Finanzierungsmitteln für einen Lohn von 1.100 Euro die Rede, bestehend aus Regelsatz, Unterkunftskosten, Kranken- und Pflegeversicherung des Arbeitslosen sowie 220 Euro Arbeitgeberanteil. Ob davon netto mehr als der Regelsatz übrig bleibt und wie viele Stunden gearbeitet werden soll, ist völlig offen. Nur in einer Fußnote merkt der Paritätische an, dass er eigentlich eine Bezahlung nach Tarif will. Der FDP-Vertreter offenbar nicht. Damit ließe sich ein gigantischer Niedriglohnsektor schaffen, zumal in nicht gemeinnützige Firmen in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden soll. Das bisherige Kriterium, dass Jobs im zweiten Arbeitsmarkt nur zusätzlich sein und reguläre Stellen nicht ersetzen dürfen, würde abgeschafft.
Wer kommt für die Jobs infrage?
Damit wären wir beim nächsten Problem, den Vermittlungskriterien. In dem Konzept ist von Arbeitslosen die Rede, die sich „aufgrund von Handicaps beim Ein- oder Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt schwertun“. Das legt ein Menschenbild nahe, das Langzeitarbeitslose als eine Art sozial Behinderte begreift. Bislang unterscheidet sich der Schwerbehinderte vom Arbeitslosengeld-II-Empfänger aber dadurch, dass er seinen Arbeitsplatz frei wählen kann und leistungsgerecht bezahlt werden muss. Der Arbeitslose, der wie ein Behinderter klassifiziert wird, hat diese Rechte nicht. Ihm wird etwas aufgedrängt, dann kann er als billige Arbeitskraft eingesetzt werden.
In Chemnitz hat der psychologische Dienst der Arbeitsagentur kürzlich einen Erwerbslosen als psychisch krank klassifiziert, sodass ihm eine Umschulung verweigert werden konnte. Hintergrund sind gekürzte Gelder für Maßnahmen. In Zukunft könnten Erwerbslose als gehandicapt klassifiziert werden, damit sie solche Jobs annehmen müssen.
Dass manipuliert wird, wenn erst mal die Gelder fließen, lässt sich nicht ausschließen. Ich halte angesichts der sich häufenden Vorfälle eine unter Sanktionsdrohung erzwungene psychologische Begutachtung für fragwürdig.
Wie erfolgreich wird der Paritätische mit seinem Konzept sein?
Ich bin mir nicht sicher. Zumindest die Grünen haben kürzlich ein Konzept vorgelegt, das in eine ähnliche Richtung geht. Sie sagen nichts über die Lohnhöhe, wollen aber die Vermittlung vom Grad der Leistungsminderung abhängig machen. Zu deren Ermittlung sollen wieder der psychologische Dienst oder eine Kommission herangezogen werden. Liegen drei Kriterien von Vermittlungshemmnissen vor, kann der Job dauerhaft zu 100 Prozent gefördert werden. Damit wäre auch die bisherige zeitliche Befristung solcher Jobs weg.
Meiner Beobachtung nach gibt es derzeit zwei getrennte Debatten. Die eine ist die offizielle, wonach Arbeitslosen Chancen angeboten werden, die sie aber oft nicht wollen. Und dann ist da die Sicht von Erwerbslosen. Sie sagen, wir werden in Jobs auf dem zweiten Arbeitsmarkt gezwungen, die uns nichts nutzen und nur dazu dienen, Beschäftigungsfirmen am Leben zu erhalten. Dringt diese Sicht noch zu den Beschäftigungsträgern vor?
Nicht mehr. Die Beschäftigungsfirmen haben sich ganz auf ihre Auftraggeber von der Bundesagentur für Arbeit eingestellt. Die will kurzfristige Erfolge und schickt gnadenlos in Kurse und geförderte Jobs, auch wenn die Leute nicht zu der Beschäftigungsfirma passen. Die Erwerbslosen selbst haben keine Möglichkeit, wirklich gehört zu werden. Unter der Situation leiden jene Beschäftigungsträger am meisten, die noch einen gewissen Anspruch haben und die Leute individuell unterstützen wollen.
Warum?
Wer eine solche Unterstützung für Erwerbslose leisten will, muss sich auf die Menschen einstellen können und braucht ein bisschen Zeit. Und darf nicht aufgrund gewünschter kurzfristiger Vermittlungserfolge nur das Einfachste bieten dürfen. Die kleinen Beschäftigungsträger müssen jetzt genauso um ihre Zuwendungen fürchten wie die großen kommunalen Beschäftigungsgesellschaften, die sich schon lange darauf eingestellt haben, für die Kommunen Grundarbeiten kostengünstig zu erledigen. Entweder machen die Unternehmen, die bislang vernünftige Konzepte hatten, die Vorgaben der Bundesagentur mit – oder sie gehen in Insolvenz.
Was wäre denn ein sinnvolles Konzept für den zweiten Arbeitsmarkt?
Parallel zu allen Bereichen, die der zweite Arbeitsmarkt ständig bedient, müsste systematisch reguläre Dauerbeschäftigung aufgebaut werden. Das ginge mit einem Quotensystem: Wenn heute ein Beschäftigungsträger 80 Prozent des Garten- und Landschaftsbaus einer Stadt übernimmt, sollte mit der Zeit eine Quote erreicht werden, dass es etwa nur noch 30 Prozent sind. Unter noch strengeren Quotenvorgaben könnte ich mir auch die Vermittlung in Helferberufe in der Privatwirtschaft vorstellen. Aber dafür enthält das Papier keine Missbrauchssperre.
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