Debatte Arm gegen Reich: Die Überflüssigen
Mit dem US-Wahlkampf kommt mal wieder ans Licht, wie viele Reiche eigentlich ticken. Schaffen sie die Armen ab? Oder siegt das „Eat-the-rich“-Prekariat?
D ie Berichterstattung über den Wahlkampf in den USA beschäftigt sich meist mit theatralischen und rhetorischen Aspekten. Gelegentlich aber, eher zufällig, fast beiläufig, wird etwas Wesentliches sichtbar, das einen schaudern lässt. So auch letzte Woche, als wir dank der Recherche der Zeitschrift Mother Jones erfuhren, was Mitt Romney bei einem Wahlkampfdinner hinter verschlossenen Türen, quasi ohne Maulkorb, so von sich gibt.
Tagein, tagaus verkündet er, wie jeder Kandidat, dass er allen Amerikanern helfen möchte. Ihr Wohl liege ihm am Herzen, eine wachsende Zahl Menschen sei in den letzten vier Jahren arm geworden und von Lebensmittelmarken abhängig (inzwischen 47 Millionen, etwa ein Sechstel der Bevölkerung). Meist schließt der gläubige Mormone mit dem Satz: „This is a campaign about helping people who need help.“
In Florida aber, vor extrem vermögenden Anhängern, äußerte sich Romney dezidiert anders: 47 Prozent der Bevölkerung seien Parasiten, die vom Staat abhingen, keine Steuern zahlten, Ansprüche stellten und sich zudem noch als Opfer des Systems begriffen. Seine Stimme triefte vor Verachtung.
ist Schriftsteller und Weltensammler. Letzte Veröffentlich: „Stadt der Bücher“ (mit Anja Bohnhof), Langen/Müller, München 2012.
Romneys Augenwischerei
Kaum wurde dieser ehrliche Ausrutscher öffentlich, erklärte Romney in einer eilends einberufenen Pressekonferenz mit zuckriger Stimme, er wolle für all diese Menschen Jobs schaffen, die ihnen ein würdigeres Leben ermöglichten. Das ist allerdings lediglich Augenwischerei.
Als international erfolgreicher Geschäftemacher weiß er, dass es angesichts fortschreitender Globalisierung und Automatisierung unmöglich sein wird, für den allergrößten Teil dieser Menschen Arbeit zu schaffen (der von ihm gegründete Bain Capital Equity Fund schließt dieser Tage den profitablen Automobilzulieferer Sensada in Freeport, Illinois, um die Produktion nach China zu verlegen). Mit anderen Worten: diese Menschen sind überflüssig.
Einige Tage später sprach ich mit einer Investmentbankerin, die mich süffisant fragte, wie ich denn meine sozialen und ökologischen Überzeugungen mit der Tatsache in Einklang bringe, dass es zu viele Menschen auf der Erde gebe. In Kreisen der sogenannten Elite wird seit einiger Zeit ein posthumanitärer Mischmasch aus neomalthusianischen und neoliberalen Positionen zusammengerührt.
Schon 1996 erklärte CNN-Gründer Ted Turner der Zeitschrift Audubon: „Eine Bevölkerung weltweit von 250 bis 300 Millionen Menschen, ein Rückgang um 95 Prozent, wäre ideal.“ Im Alter gnädiger geworden, bekannte er sich 2008 beim Philadelphia World Affairs Council zu dem Ziel, die Weltbevölkerung auf 2 Milliarden zu verringern. Sein Freund John Malone, der ihn 2011 als größter privater Landbesitzer der USA ablöste, raunte neulich: „Ich bin eher geneigt zuzugeben, dass der Mensch nicht verschwinden wird.“
Auch Bill Gates propagiert eine drastische Reduktion der Bevölkerungszahl. In einer Rede aus dem Jahre 2010 schätzt er, dass durch „neue Impfstoffe und bessere Gesundheitsversorgung vor allem im Bereich der Fortpflanzung“ die bald 9 Milliarden zählende Weltbevölkerung um zwischen 10 bis 15 Prozent verringert werden könnte.
Bill Gates’ Fantasien
Das ist eine erstaunliche Aussage, da bekanntlich nicht Polioimpfungen und geringere Kindersterblichkeit, sondern eine bessere Ausbildung der Frauen (siehe das Beispiel des indischen Bundesstaats Kerala) sowie weit verbreiteter Wohlstand (siehe das Beispiel Deutschland) das Bevölkerungswachstum gegen null reduzieren, gewiss aber nicht derart massiv rückgängig machen können.
Neomalthusianer haben nicht nur in den USA Hochkonjunktur. Die russische Zeitschrift Ekologitscheski Postmodern (Ökologische Postmoderne) publizierte vor einigen Jahren einen Artikel, der unter anderem eine Tabelle für das Jahr 2007 über „Länder der Welt mit überflüssiger Bevölkerung“ enthielt. Es wurden 107 Staaten aufgeführt, in denen über 80 Prozent der Weltbevölkerung beheimatet ist, 5.470.982.000 Seelen, bei einer „biologisch zulässigen Bevölkerung“ von 1.922.121.200.
Die Überbevölkerung betrug demnach 3.548.868.800. Besonders großen Überschuss haben angeblich China (860 Millionen) und Indien (938 Millionen).
Die Kellner filmen zurück
Das wird Sparpakete der besonderen Art erfordern. Auffällig, dass in der Tabelle weder Russland noch die USA aufscheinen. Wahrscheinlich ist es inopportun, die Überflüssigen bei sich selbst zu suchen. So wie auch jene, die eine freiwillige Beschränkung auf ein Kind fordern, selbst eifrig für Nachwuchs sorgen: Ted Turner hat fünf, Bill Gates drei Kinder.
Überflüssig ist derjenige, dessen Arbeitskraft nicht in den kapitalistischen Kreisläufen profitabel genutzt werden kann. Ein Subsistenz- oder Kleinbauer ist somit extrem überflüssig, auch wenn er um ein Vielfaches nachhaltiger lebt als ein Großstädter. Ginge es tatsächlich um ökologische Prioritäten, würde man die Überflüssigen zuallererst bei Superreichen wie Romney ausfindig machen, deren persönlicher Verbrauch dem ganzer afrikanischer Städte entspricht.
Mit anderen Worten: Je materiell erfolgreicher jemand im herrschenden System ist, desto ökologisch destruktiver. Das ist nicht evident, weil seit je ein weißer Mann in der eigenen Auffassung tausend braune, gelbe oder schwarze Männer wert ist; in der Masse machen stets nur die anderen unseren Planeten kaputt.
Wahrscheinlich hat einer der Kellner die Romney-Rede in Florida mitgeschnitten und an die Öffentlichkeit gebracht. Das ist eine weitere Hybris dieser patriarchalisch-individualistischen Position: Das Prekariat, aus dessen Reihen sich die billigen Arbeitskräfte rekrutieren, die den Erfolgreichen und Wohlhabenden die Schuhe putzen und die Getränke servieren, könnte es eines Tages leid sein, nur die Brosamen aufzuklauben, die von den reich gedeckten Tischen hinabfallen.
„Eat the Rich“ hieß ein wunderbarer englischer Film aus den achtziger Jahren, eine satirische Antwort auf die Politik Margaret Thatchers. Wer wen am Ende frisst, wird sich noch erweisen.
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