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Schlagloch KulturkritikIst doch Frackjacke wie Jogginghose

Kommentar von Georg Seeßlen

Kulturkritik ist ein verdammt gefährliches Instrument. Wer Kulturkritik betreibt, nimmt sich viel heraus und riskiert einiges.

Dekadenz oder Verwahrlosung? Hier muss der Kulturkritiker ran. Bild: dpa

K ulturkritik muss sein. Wenn man die gängige Begrifflichkeit nimmt, kritisiert (Definieren Sie mal Kritik!) Kulturkritik jene Elemente einer Kultur (Was ist das, bitte schön?), die sie als disparat zu den Bedürfnissen (Und wer bestimmt das?) und Möglichkeiten (Erzählen Sie mir nichts von Möglichkeiten!) erkennt.

„Der weite Begriff umfasst alle Kommentare, Einsprüche und Anklagen gegen ,verkehrte‘ Wertsysteme, ,schlechte‘ Zustände und ,falsches‘ Verhalten seit der Antike.“ So heißt es in der Wikipedia, und natürlich geht es nicht zuletzt um Kommentare zu Bildern, Tönen und Texten, in denen jemand das „Verkehrte“, „Schlechte“ und „Falsche“ wittert. Was aber wäre, wenn man das nicht erkennen und kritisieren dürfte?

Doch wer darf das, und wer soll das? Ist das eine Sache von „Intellektuellen“, oder kann man auch die Bild-Zeitung und die Schmuddeltalkshow als „Kulturkritik“ verstehen?

Bleiben wir vorerst bei der Kulturkritik als Geste der Dissidenz. Wer Kulturkritik betreibt, nimmt sich also viel heraus und riskiert einiges. Weil niemand, nach dem Verschwinden der Götter und der Parteien, die immer recht haben, zu sagen wüsste, wer einem eigentlich das Recht dazu gibt, in Dingen das Schlechte und Falsche zu sehen, die anderen, vielleicht sogar der Mehrheit als das einzig Senkrechte, genau Richtige und Supertolle erscheinen.

Muss nicht Kulturkritik ihren Adressaten auch die Möglichkeiten zu Trost, Kompensation, Hoffnung nehmen? Kann das Falsche auf der einen Seite der Gesellschaft etwas anderes sein als das Richtige auf der anderen Seite?

Georg Seeßlen

Vom Autor erscheint in diesem Jahr das Buch „Kunst frisst Geld. Geld frisst Kunst“, zusammen mit Markus Metz verfasst in der Edition Suhrkamp. Da geht es ins Einzelne und wird wirklich böse. Versprochen.

Kulturpessimismus reizt zu Hipster-Tänzchen

Wenn man Kulturkritik historisch und moralisch übertreibt, nennt man das „Kulturpessimismus“, und Kulturpessimismus ist verboten oder wird mit einem Hipster-Tänzchen beantwortet. Erfolgreichen Kulturpessimismus von rechts aber verwandelt der Buchmarkt in Bestseller.

Wenn man es indes mit der Politik und der Ökonomie in der Kulturkritik übertreibt, und man spricht von „Entfremdung“ oder „Kulturindustrie“ oder gar „Bewusstseinsindustrie“, dann ist man ein „Altlinker“, leidet unter Verschwörungsfantasien oder hat den Zeitgeist nicht verstanden. Der Spielraum für Kulturkritik in einer demokratisch-kapitalistischen Gesellschaft ist gering.

Andererseits gibt es „die Kultur“ ja gar nicht. Vielmehr gibt es ein Miteinander und Ineinander von Kulturen, die sich manchmal überschneiden (und wenn sich viel überschneidet, nennt man das „Mainstream“). Und die sind wieder in Subkulturen und temporäre Phänomene gespalten, und viele bestehen nur aus der Energie, mit der sie sich von den anderen abgrenzen.

Dass Kultur für eine Reinigungskraft und einen Lehrkörper etwas anderes sein muss, auch wenn beide denselben Fernsehapparat zu Hause stehen haben, erklärt sich aus den Lebensbedingungen und nicht aus der Natur. Die Reinigungskraft, die „Die Kritik der reinen Vernunft“ liest, ist so unvorstellbar wie der Lehrkörper, der sich bei Fips Asmussen auf die Schenkel klopft.

Klassen, so wissen wir von Pierre Bourdieu, werden stets sowohl durch Ökonomie als auch durch Kultur erzeugt. So heißt linke Kulturkritik erst einmal Kritik der kulturellen Erzeugung der Klassen.

Komödienstadl und Würstchenreklame

Deshalb muss eine Kulturkritik, die weder Ausdruck einer klassistischen Verachtung werden soll noch der einer politisch-moralischen Anmaßung, die Klassen mitdenken – die eigene und die der kritisierten Kultur-Erscheinungen. Wer also bin ich, Andrea Berg, den Komödienstadl, die Soap Opera, die Trachtenmode, Würstchenreklame, Musicals, Fanshops etc. zu kritisieren, was für die einen großes Kino und für die anderen ästhetisch-moralischer Müll ist?

Ich weiß nur, was ich auf gar keinen Fall sein möchte: Ein Besserer, der etwas Schlechteres missbilligt und das in sarkastische Worte kleidet. Teil einer „gehobenen“, mehr oder weniger linken Mittelstandskultur, die eine „Unterschichtkultur“ verachtet.

Mindestens so notwendig, wie die Objekte der Kulturkritik so präzis als möglich zu treffen, ist es, eine genaue politische Grammatik der Kritik zu entwickeln: Ich will auch keiner sein, der das Falsche und Wertlose kritisiert, weil er so genau weiß, was das Richtige und Wertvolle wäre. Jede Kulturkritik, die etwas zu sagen hat, bezieht den Kritiker und seine Kultur mit ein.

Die professionelle Kulturkritik ist, bedingt durch kulturelle wie durch ökonomische Faktoren, in der modernen Gesellschaft einem intellektuell teildissidenten Segment des Kleinbürgertums zugefallen. Schon daher ist es verständlich, wie sich die beiden schärfsten kulturkritischen Bezeichnungen bildeten, die „Dekadenz“ (der Oberschicht) und die „Verwahrlosung“ (der Unterschicht).

Verbrämte Verachtung

Noch durch die elegantesten, an kritischer Theorie oder Strukturalismus geschulten Denkfiguren der Kulturkritik spukt gern diese Ur-Unterstellung einer Mitte gegen das Oben und das Unten. Und umgekehrt haben sich die, die sich für eine Elite halten und meistens nur Privilegierte sind, ihre Verachtung gegenüber den unteren Klassen gern kulturkritisch verbrämen lassen.

Davon, wie sich Kulturkritik mit rassistischen und sexistischen Phantasmen aufladen lässt, ganz zu schweigen. Kulturkritik ist ein verdammt gefährliches Instrument. Für alle Beteiligten.

Nicht die Kultur, die eine Klasse hat, sondern die Kultur, die eine Klasse macht, ist der Gegenstand der Kritik. Also nicht ein Bohlen, der mit seinem Kotzsprech ein „Ventil“ wäre für angestauten Zorn, sondern ein Bohlen, der seine Adressaten verdammt. Also nicht die Klasse, sondern ihre Produktion und ihre Ausbeutung. Nicht die Belehrung der Konsumenten, sondern das Verständnis der kulturellen Produktion und der dahinter liegenden Interessen. Kurz: Es kommt auf die Perspektive an.

Kulturkritik ist eine der verschiedenen Möglichkeiten zu sagen, dass man nicht einverstanden ist mit der (politisch gemachten) Welt. Einer der Versuche, ihre Veränderbarkeit zu erkennen. Eine Hoffnung darauf, Verbündete zu finden.

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9 Kommentare

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  • G
    gereizt

    "Die Reinigungskraft, die „Die Kritik der reinen Vernunft“ liest, ist so unvorstellbar wie der Lehrkörper, der sich bei Fips Asmussen auf die Schenkel klopft."

    Unvorstellbar? Das ist hoffentlich irgendwie ironisch gemeint. Zumal es vermutlich auch mehr Lehrkörper gibt, die über Fips Asmussen (ich musste googeln) lachen, als solche, die die 'Kritik der reinen Vernunft' lesen.

     

    Aber ehrlich gesagt habe ich den Inhalt dieses Textes ohnehin nicht erfassen können. Vielleicht bin ich zu dumm. Aber vielleicht ist da auch einfach nichts. Das ganze erinnert mich verdammt an Jungs im Philiosophiestudium und ermüdende Monologe, hinter denen ich vor zwanzig jahren vergeblich versucht habe, so was wie Substanz zu entdecken. Als ich älter wurde, habe ich das als Zeitverschwendung aufgegeben. Was aus den Junge geworden ist? Keine Ahnung. Vielleicht schreiben sie heute für die TAZ.

  • R
    Ridicule

    @RIDICULE Verwechseln Sie hier nicht klassistisch mit klassizistisch?

     

    aber Hallo - nicht wirklich, aber

    Rebleken macht manchmal klasse Spaß.

  • 7G
    774 (Profil gelöscht)

    Mit Kulturkritik haben die deutschen kein Problem - solange damit andere Völker gemeint sind.

  • R
    Ridicule

    "klassistisch"

     

    wird z.B. die Fassade eines Gebäudes

    genannt, die der Klassik nachempfunden ist;

    Schinkelbauten haben gerne diesen drive

    ( wobei viele sogenannte aber gar nicht von ihm sind;

    allenfalls die Pläne dazu seine Genehmigungsparaphe tragen;

    ein beliebtes Feld einer blau-gelben Splitterpartei,

    wenn ihr wie immer sonst nix einfällt;-))

     

    ansonsten - schmunzelnd gern gelesen;

    zu Gleichwertigkeit der Quellen und fehlender

    Über-Unter-Attitüde fällt mir Klaus Theweleit

    mit seinen Ziegelsteinen von Roter Stern ein.

    • AP
      Akademisierte Proletarierin
      @Ridicule:

      Verwechseln Sie hier nicht klassistisch mit klassizistisch?

       

      Zum Text: sehr anregend und überaus sympathisch, mir scheint, der Autor ist soetwas wie ein einamer Rufer in der Wüste. Eine doch unattraktive Kunst, sich nicht über andere zu stellen und "nach unten offen" zu sein; mir persönlich geht besonders der RLF-Hype auf die Nerven. Ups, war das jetzt schon Kulturkritik klassistischer Färbung? Leider kann ich das als Möglichkeit nicht ausschließen.

  • P
    Piet
  • M
    miri

    "Die Reinigungskraft, die „Die Kritik der reinen Vernunft“ liest, ist so unvorstellbar wie..." ...wie eine Akademikerin, die in Zeiten der Migration aus Osteuropa oder sonstwo kommt, ihren Doktorgrad nicht anerkannt kriegt und vom Arbeitsamt erstmal putzen geschickt wird. In welcher Welt lebt der Autor?! Zur Zeit der "Gartenlaube", als alle Klassen und Stände noch feinsäuberlich aufgeteilt waren und jeder an seinem Platz glücklich war?!

  • R
    reblek

    "Deshalb muss eine Kulturkritik, die weder Ausdruck einer klassistischen Verachtung..." - Kultur- als, sorry, Sprachkritik: Was bitte, bedeutet "klassistisch"?

    • PT
      Prima T.
      @reblek:

      Was bitte, bedeutet klassistisch"? ??

      Vielleicht einem Tippfehler?