Protestbewegung „Nuit debout“: Gedichte und Falafel
Die Aktionen in Paris gehen weiter. Doch seit der Philosoph Finkielkraut vom Platz vertrieben wurde, regt sich der Unmut der Konservativen.
Über dem riesigen Platz im Zentrum von Paris hängt ein Duft von Grillwurst und Falafel, improvisierte Straßenhändler bieten den Durstigen gekühlte Bierdosen an. Bei der „Marianne“-Statue in der Platzmitte tanzen ein paar Jugendliche zu den Rhythmen afrikanischer Trommeln. Ein paar Schritte weiter üben sich andere in einer Art Gymnastik. Eine Gruppe von Kurden hat einen Informationsstand mit einem großen Porträt von PKK-Chef Öcalan aufgestellt. Und gleich daneben nehmen mehrere hundert ZuhörerInnen an einer „Generalversammlung“ teil – dem eigentlichen Ereignis und Herz dieser Bewegung.
Ein junger Mann hat die Leitung übernommen. Er ruft die Leute, die zu Wort kommen wollen, beim Vornamen ans Mikrofon. Die Liste ist lang, die Themen sind sehr unterschiedlich und manchmal auch etwas ausgefallen. Matthieu M., ein jugendlicher Dichter, verliest sein „revolutionäres Gedicht“ über die Monotonie in der Metro.
Dann äußert Yannick sich zum heiklen Thema Gewalt. Man dürfe sich nicht von den „Casseurs“ (Randalierern) distanzieren, die kürzlich am Rande einer Demonstration bei Zusammenstößen mit der Polizei Sachschäden angerichtet haben. Denn die Medien und Machthabenden wollten mit dieser Unterscheidung bloß versuchen, die Bewegung zu spalten, meint er unter dem Beifall eines Teils der Anwesenden.
Informationen aus den „Kommissionen“
Laura kommt auf einen anderen Zwischenfall zurück und stellt damit die Frage der Redefreiheit auf der „République“: „Keine Toleranz für Intolerante“, dekretiert sie in Anspielung auf eine kurze Auseinandersetzung, in deren Verlauf der wegen reaktionärer Stellungnahmen umstrittene Philosoph Alain Finkielkraut angeblich von einer Gruppe empörter Jungkommunisten vom Platz vertrieben wurde. Das wird seither in allen Medien als Form der Zensur scharf verurteilt.
Für Laura dagegen, die sich selber „als Frau, Lesbe und Immigrantin mehrfach diskriminiert“ bezeichnet, sind nicht alle willkommen. Im Gegenteil müsse sich „Nuit debout“ von Rassisten und Sexisten klar abgrenzen.
Für die konservative Opposition aber ist Finkielkrauts Platzverweis symptomatisch oder gar Wendepunkt. Expräsident Nicolas Sarkozy und mehrere Sprecher seiner Partei „Les Républicains“ (LR) haben die Regierung ersucht, dem ihnen ohnehin unerträglichen Treiben auf der République endlich ein Ende zu setzen. Um nicht selber der antidemokratischen Unterdrückung der Meinungsfreiheit angeklagt zu werden, findet die Rechte alle möglichen Vorwände für ein Verbot: „Die Besetzung bedeutet zu viel Aufwand und Energie seitens der Ordnungskräfte und der Reinigungsdienste“, protestierte Sarkozys Sprecherin Brigitte Kuster. Expremierminister François Fillon hält es schlicht für unzulässig, dass während der Terrordrohung und des Notstands solche Versammlungen überhaupt geduldet werden.
Auf der République wird unbeeindruckt weiter debattiert. Zwischendurch werden Informationen aus den „Kommissionen“ durchgegeben. Auf dem Platz kann man live mitverfolgen, wie in kleinen Untergruppen etwa über ein Manifest und eine neue Verfassung diskutiert wird, andere Arbeitsgruppen widmen sich auf Wunsch der TeilnehmerInnen Themen wie Ökologie, Sexismus und LGBT, „Françafrique“ und Neokolonialismus. Die Zahl der Anliegen und die Liste der Forderungen und Vorschläge wachsen.
Doch mangels Alternativen verteidigt die Bewegung ihre erste und einzige und bisher wichtigste Errungenschaft: den besetzten Platz. Das haben sie vom Beispiel der Indignados in Spanien und dem Arabischen Frühling in Kairo gelernt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste