Erinnern an die Einwanderung: Orte zum Sprechen bringen
Das Projekt "Route der Migration" soll die Geschichte der Einwanderung im Stadtbild sichtbar machen - und historische Orte vor dem Vergessen bewahren.
An Orten der Erinnerung herrscht in Berlin kein Mangel, man stolpert geradezu über Geschichte. Die Stadt lebt vom Nebeneinander von Gegenwart und Vergangenheit, die auf viele Weise sichtbar gemacht wird - etwa durch die in Gehwege eingelassenen Stolpersteine, die an von den Nazis deportierte und getötete Berliner Juden erinnern.
Doch ein wichtiger Teil der Geschichte, die Berlin zu einer Weltmetropole macht, ist bislang fast unsichtbar: die Geschichte der Einwanderung. Mit dem Projekt "Route der Migration" soll sie sichtbar werden. 150 "Orte, die nicht vergessen werden sollen", hat das Netzwerk Migration in Gesprächen mit MigrationsexpertInnen und EinwanderInnen im Auftrag des Senatsintegrationsbeauftragten Günter Piening zusammengetragen - darunter Bahnhöfe und Flughäfen als Ankunftsorte, aber auch die alten Friedhöfe von EinwanderInnen, die lange vor der Anwerbung von Gastarbeitern durch DDR und BRD kamen.
Denn auch wenn der 50. Jahrestag des Abschlusses des Anwerbevertrags zwischen der Bundesrepublik und der Türkei im Herbst naht: Er ist nur ein Anlass für die "Routen", die bewusst "tiefer graben" sollen, wie Piening sagt. Am Beispiel der unscheinbaren Baracke, in der das Projekt am Montag präsentiert wurde, macht Martin Düspohl, Leiter des Kreuzbergmuseums, vor, wie das gemeint ist: Heute sitzt dort der Verein der Einwanderer aus Dersim, einer von ethnischen und religiösen Minderheiten bewohnten Region im Osten der Türkei. Zuvor war der Pavillon jahrelang Anlaufstelle für Flüchtlinge aus dem zerbrechenden Jugoslawien. Noch früher wurden dort Visa für Besuche von WestberlinerInnen im Ostteil der geteilten Stadt ausgestellt - die kleine Baracke war eine von fünf Außenstellen des Ministeriums für Staatssicherheit in Westberlin.
Und Düspohl hat noch tiefer gegraben: Er erinnert an den Standort der Baracke, das Hallesche Tor, das jahrhundertelang "streng bewachter Eingang" für den Zugang zur Stadt war - durch das auch einst die Kosaken in die Stadt ritten, um diese von der Besatzung der Franzosen zu befreien: Der dortige Straßenname "Waterlooufer" erinnert noch heute an die Siegesschlacht über Napoleon.
Die Architektin und Ausstellungsmacherin Cagla Ilk bereitet derzeit die fünf ersten Routen zur Erinnerung an die Migration in die Stadt vor. Info-Container sollen wichtige Orte markieren, an der Entwicklung der inhaltlichen Themenschwerpunkten arbeiten und forschen derzeit noch Studierende der Geschichte und der Europäischen Ethnologie von Humboldt- und Freier Universität. Von Oktober bis November soll es dann neben Führungen auch Veranstaltungen an allen Orten geben.
Er sei "total begeistert" von dem Projekt, sagte bei dessen Präsentation Kulturstaatssekretär André Schmitz: "Die Vielfalt der Stadt sichtbar zu machen ist ein kulturpolitisches Anliegen." Auch Bosiljka Schedlich, Leiterin des Südosteuropa-Kulturvereins, die die Aufnahme von Flüchtlingen aus Jugoslawien in der heutigen Dersim-Baracke als Dolmetscherin miterlebte, begrüßt das Bemühen um Erinnerung. An der Geschichte der Dersim-Baracke werde sichtbar, dass oft Nationalismus der Hintergrund von Migration, aber eben auch von Zugangssperren sei: "Indem wir dabei innehalten und schauen, wo wir heute stehen, erkennen wir die Fehler von gestern und können neue vermeiden."
Finanziert wird das Projekt, das in den kommenden Jahren durch ein Internetportal und die dauerhafte Markierung wichtiger Orte der Migration ergänzt werden soll, unter anderem durch Lottomittel, europäische Forschungsgelder sind beantragt. Auch aus dem Hauptstadtkulturfonds würden sicher "irgendwann Mittel fließen", hofft der Integrationsbeauftragte.
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