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Ringen um einen Lexikon-EintragWer bestimmt das Wikipedia-Wissen?

Der Wikipedia-Artikel über den „Neoliberalismus“ ist einer der umkämpftesten in der Online-Enzyklopädie. Es wird ergänzt, geändert und geätzt. Mitten im Edit War: ein Lokalpolitiker von der FDP

Die Diskussion um den Artikel Neoliberalismus hat mehr als 270 Wikipedianer beschäftigt. Bild: screenshot

Gleich am Anfang bringt Wikipedia-Autor "Fgb" Tiere ins Spiel. Neoliberalismus lasse "den freien Wolf im freien Stall der freien Hühner frei wildern", schreibt er in den Artikel. Es ist der 20. August 2002, 16 Uhr 10, als er auf den Button zum Speichern klickt - die erste Änderung an dem Wikipedia-Eintrag "Neoliberalismus". Über 2.270 weitere werden in den kommenden acht Jahren folgen. Über 270 angemeldete Enzyklopädisten streiten mit. In unzähligen Stunden am Rechner. Unentgeltlich. Ohne namentliche Nennung. Laien und Hochschuldozenten, Spaßvögel und Kindergärtner, Verbesserer und Verbissene. Wer sind diese Menschen eigentlich?

15. Dezember 2005, 16.54 Uhr. Der Benutzer "Minister" schreibt auf der Diskussionsseite zum Artikel "Neoliberalismus": "Das Problem ist eben, dass Neoliberalismus ein sehr emotional besetzter Begriff ist. Einige politische Gruppen in Deutschland wollen den Begriff eben als Kampfbegriff gegen den sog. ,Sozialabbau' behalten, obwohl er eigentlich etwas ganz anderes bedeutet."

Philipp Krebs sitzt gerade auf einem Caféstuhl. Sein blau-weiß gestreiftes Polohemd ist gebügelt, die Haare hat er ordentlich hochgestrubbelt. Krebs ist der Mann hinter dem Enzyklopädisten-Namen "Minister". Er wohnt in Lörrach, einem Städtchen gleich an der deutsch-schweizerischen Grenze. Philipp Krebs ist Anfang zwanzig und das, was man unter einem wohlerzogenen jungen Mann versteht.

Bild: taz

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Mehrere Wochen hatte er den Artikel "Neoliberalismus" beobachtet, bevor er ihn im Herbst 2005 zum ersten Mal bearbeitete. Der Eintrag war gerade zum "exzellenten Artikel" gewählt worden. Ein Qualitätssiegel der Wikipedia. Diejenigen, die drei Jahre fleißig an dem Text geschrieben hatten, waren stolz: Satz für Satz, Quelle für Quelle hatten sie ihn ergänzt. Oder auf der Diskussionsseite, einer Art Forum, die zu jedem Wikipedia-Artikel gehört, um die treffendste Formulierung gerungen.

Am 25. Oktober 2005 stieg Philipp Krebs in die Debatten ein, erst unter seinem Pseudonym "Minister", später unter Klarnamen. Sein Ziel: die Wikipedia verbessern. Er ärgerte sich, dass viel behauptet wurde, ohne es zu belegen. "Ich hatte das Gefühl, es fehlte an Leuten, die das Ganze auf eine sachliche Ebene bringen", sagt er heute. Befürworter des Neoliberalismus hatten ein neues Unterkapitel namens "Kritik an der Kritik" angelegt. Krebs schrieb in seinem allerersten Beitrag auf der Diskussionsseite, dass er das für unnötig hält. Und dass es außerdem POV sei. Das ist Wikipedia-Jargon und steht für "Point of View" - Standpunkt. Eine Meinungsäußerung, die in einem enzyklopädischen Eintrag nichts zu suchen habe. In den nächsten Tagen und Monaten veränderte Krebs auch Kleinigkeiten. Er sortierte, formatierte, ergänzte.

Krebs ist kein Experte für Wirtschaftswissenschaften. Er arbeitet als Mechatroniker. Irgendwann begann er aber, sich für Wirtschaftspolitik zu interessieren. Wenn ihm etwas auffiel, ergänzte oder löschte er in einem Eintrag. Heute bezweifelt er, dass kompetente Laien zum Neoliberalismus-Eintrag noch allzu viel beitragen können. Krebs greift in Wikipedia-Artikel nur ein, wenn er sich auskennt, bei Rollengewindetrieb oder Kugellagermotoren.

Fragt man Krebs, ob man ein Klugscheißer sein muss, um sich in der Wikipedia zu engagieren, huscht über sein Gesicht ein Ausdruck, der klarmacht, dass ein solches Wort nicht zu seinem Sprachschatz gehört.

Einfach war es nicht, ihn zu diesem Treffen zu überreden. Nur wenige Wikipedianer editieren unter echten Namen. Philipp Krebs treibt aber etwas um: "Es gab damals den Versuch, den Artikel in eine bestimmte Richtung zu lenken", sagt er. "Den Versuch, ein Bedeutungsmonopol in Bezug auf Neoliberalismus zu errichten - so, wie Lafontaine und Co den Begriff verstanden haben wollen." Faktisch Falsches könne schnell korrigiert werden. Wenn ein Artikel aber tendenziös sei, müsse man Änderungen gut begründen, damit die anderen sie akzeptieren. "Es ist mir nicht gelungen, diese Tendenz zu stoppen", bilanziert Krebs.

Am 5. Februar 2006 wird der "Neoliberalismus"-Artikel 32 Mal bearbeitet. Wikipedia-Nutzer können an diesem Tag 32 unterschiedliche Versionen sehen. Philipp Krebs wird das zu anstrengend, er klinkt sich aus der Debatte aus. Einen Tag später sind es 40 Versionen.

Er hat aufgegeben. "Was ändert es an der Welt, ob jetzt das eine in der Wikipedia steht oder das andere?", fragt er. Der scharfe Ton, der unter den "Neoliberalismus"-Enzyklopädisten herrscht, habe ihn nicht rausgeekelt. "Das ist das Gleiche, wie wenn ich mich mit der FDP hier auf den Marktplatz stelle und mir die Leute erzählen, wie schwul unser Vorsitzender ist", sagt er.

Krebs, der immer wieder Neutralität im Artikel anmahnte, ist Schatzmeister der örtlichen FDP. "Die Kritiker des Neoliberalismus sind häufig Anhänger politisch gescheiterter, undemokratischer oder restriktiver Denkmuster, deren Menschenbild die Kontrolle des Individuums durch staatliche Institutionen der Freiheit und Verantwortung des Einzelnen überordnet", ergänzte er im November 2005. Wegen Änderungen wie diesen warf ihm der Benutzer "Anorak", IT-Spezialist aus Berlin, vor, selbst "nicht ganz NPOV" zu sein. Das ist Wikipedianisch für "Neutral Point of View", also neutral.

Natürlich, antwortete Krebs damals. "Aber wer ist das schon?"

Wie Philipp Krebs, ein Soziologe, ein Braunschweiger Bankangestellter und andere Wikipedianer den Kampf um die Deutungshoheit über den Begriff „Neoliberalismus“ austragen, lesen Sie in der aktuellen sonntaz.

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11 Kommentare

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  • S
    Seeräuber-Jens

    Die größte Schlacht, die ich je in der Wikipedia verfolgt habe – die stürmen schließlich selbst die englische -, ist die von Athenaios vs. Brender (habe ich, hoffe ich, richtig geschrieben) um den einen Satz:

     

    "Atlantis ist nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft eine literarische Fiktion Platons."

     

    Nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft? Kann der sich auch ändern? Aber ein Kochbuch ist doch ein Kochbuch nicht nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft, sondern war gestern ein Kochbuch, heute ein Kochbuch und wird auch morgen noch eines sein?

     

    Abgründe tun sich da auf … eine Schlacht auf höchstem Niveau, die fetzen sich durchaus auch auf Altgriechisch!

  • MD
    Matthias D.

    Dem Artikel liegt eine wirklich gute Idee zu Grunde. Danke.

  • E
    Ex-Wikipedianer

    Die in der Wikipedia rund um "Mr. M****rd" agierende Gruppe von neoliberalen POV-Pushern ist teilweise 12 Stunden am Tag vor den Rechnern und on- und offline ausgezeichnet vernetzt.

    Was in den betroffenen Artikeln an Mobbing, Ignoranz und systematischer PR-Arbeit betrieben wird passt auf keine Kuhhaut. Ich würde gerne wissen, wer von dritter Seiite den ganzen Aufwand bezahlt.

     

    Die allermeisten Autoren die dieses Treiben kontrollieren und die Artikel auf eine belegte ausgewogene Basis stellen wollten haben leider inzwischen aufgegeben.

     

    Jeder kann im Projekt niederschwellig einsteigen. Bitte in den betroffenen Artikel genaue Quellenangaben keinesfalls vergessen. Nur so kann de Aufwand für das Treiben dieser offensichtlich bezahlten neoliberalen Stimmungsmacher erheblich erhöht werden. Insbesondere Sozial-, Wirtschafts- und Politikwissenschaftler und -Studenten sind dort hoch willkommen.

  • B
    B.C.Meierlein

    Eigentlich ist Wikipedia ja eine tolle Idee!

    Wenn man aber bedenkt, wieviele Menschen heute relativ unkritisch Informationen für sowohl nebensächliche, wie auch bedeutsame Zwecke aus Wikipedia entnehmen, so

    ist es durchaus kritisch zu sehen, wer da so alles drauflos schreibt. Ich selber schaue nur noch für weitgehend unstrittige Themen dort nach. Zu allem zu dem es auch zwei oder mehr Meinungen geben kann sollte Wikipedia aus meiner Sicht gemieden werden! Zu undurchsichtig, wer einem da auf subtile Weise seine Interessen durch die Hintertür nahe bringt.

    Und es gibt ja bereits genügend Beispiele für interessengeleitete Manipulationen in Wikipedia.

    Ganz interessant in diesem Zusammenhang ist diese Adresse: http://www.wiki-watch.de/

  • R
    Rene

    Manche der "liberalen" Wirtschaftsbeschöniger sind dort seit Jahren von morgens bis abends damit beschäftigt, den Begriff ausschließlich in der INSM/FDP-Bedeutung zu preisen, und alle Verweise auf eine kritische Verwendung wie im Angelsächsischen (Neoliberalism) zu relativieren oder zu entfernen. Da fragt man sich schon wer denn so viel Zeit für sein "Hobby" hat - auch angesichts vermehrter PR-Einträge bei Wikipedia in den letzten Jahren. Aber unterhaltsam ist er auch, der Kampf um die Deutungshoheit und die Rechtfertigung und Loppreisung des Finanzkrisendenkens der 90er und 0er-Jahre. Tip an alle Leser: Jeder kann mitmachen, sofort, und ohne Anmeldung. Aber bitte Quellen angeben und Änderungen erst auf der Diskussionsseite ankündigen/diskutieren. Und möglichst sachlich.

  • K
    Katev

    Wikipedia ist ein hoffnungsloser Fall.

  • L
    Letterman

    Wäre es nicht sinnvoll, wenn sich die Autoren in Gruppen eiteilen und die verschiedenen Gruppenmeinungen auf der Lexikonseite in einer Synopse gegenüberstellen?

     

    Die Gruppen könnten dann in Ruhe Ihre eigene Position überarbeiten und auf die Argumentation der anderen Gruppe(n) abstimmen.

     

    Das wär doch für die Autoren wie auch die Leser eine transparente und informative Vorgehensweise.

  • L
    linsenspaeller

    Das Konzept von Wikipedia läßt es ja klugerweise offen, ob man das Gelesene als wertfrei und neutral empfindet oder als einseitig gefärbt, oder sogar als manipulativ. Das ist nebenbei bemerkt eine Sache, vor der man eine auf klassischem Wege zustandegekommene Enyklopädie auch nicht bewahren kann. Da bleibt nur die Hoffnung, daß es den Programmierern eines Tages gelingt, softwarebasiert aus der Fülle an Material eine tiefere Wahrheit zu schöpfen. So lange niemand die zündende Idee hat und etwas besseres vorschlägt, muß der Nutzer sich eben damit abfinden, daß etwa der eingefügte Hinweis auf frühere SED-Mitgliedschaft in der Biografie einer "christlichen" Landtagsabgeordneten nach kaum 24 Stunden wieder verschwunden ist. Was soll`s, davon geht die Welt nicht unter.

     

    Dennoch ist Wikipedia die wertvollste Quelle an Wissen, über die jeder ohne Ansehen seiner Person und unabhängig von seinen Möglichkeiten uneingeschränkt verfügen kann. Das ist eine wahre Errungenschaft. Ein Paradies für alle, die etwas lernen wollen.

  • ZN
    Zwerg Name

    Eine weitverbreitete Sorte von sogenannten Liberalen vermengt Wirtschaftsordnung und Gesellschaftsordnung auf radikale Weise. Persönliche Freiheit ist aber eben nicht gleichbedeutend mit Kapitalismus.

     

    Anhänger gescheiteter Denkmuster finden sich gerade auch in der FDP leider zu Hauf und einige machen Wikipedia.

  • N
    Name

    "Die Kritiker des Neoliberalismus sind häufig Anhänger politisch gescheiterter, undemokratischer oder restriktiver Denkmuster, deren Menschenbild die Kontrolle des Individuums durch staatliche Institutionen der Freiheit und Verantwortung des Einzelnen überordnet."

     

    nur weil ich den neoliberalismus kritisiere, bin ich also gleich undemokratisch oder am besten gleich ein menschenverachtender kommunist, der am liebsten so leben und herrschen würde wie es in china der fall ist?

    das ist aber ein bisschen zu kurz gedacht, oder?

    POV kann ich da nur sagen!

  • O
    Olaf

    "Die Kritiker des Neoliberalismus sind häufig Anhänger politisch gescheiterter, undemokratischer oder restriktiver Denkmuster, deren Menschenbild die Kontrolle des Individuums durch staatliche Institutionen der Freiheit und Verantwortung des Einzelnen überordnet"

     

    Huch, ein ungezügelter Anflug von wahrem Gedankengut? Oder stellt er das jetzt auch noch als Reaktion auf die anderen Veränderungen dar, die gar nicht so gemeint gewesen wäre?