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Innenansichtenaus dem Gefängnis

Das polnische Pilecki-Institut zeigt „Belarus lebt!“, eine Ausstellung über die Protestbewegung in Belarusund will damit die Aufmerksamkeit für die Vorgänge in seinem Nachbarland auch in Berlin schärfen

Von Gaby Coldewey

Die belarussische Hauptstadt Minsk liegt rund tausend Kilometer von Berlin entfernt. Ähnlich weit ist es nach Paris, Venedig oder Oslo. Und doch sind uns Frankreich, Italien oder Norwegen näher als der östliche Teil Europas. Seit den gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020 protestieren die Menschen in Belarus gegen die diktatorische Präsidentschaft von Alexander Lukaschenko. Für einen Moment war das Land östlich von Polen auch bei uns in den Medien präsent. Doch jetzt taucht es nur noch selten auf.

Das polnische Pilecki-Institut am Brandenburger Tor möchte mit der Fotoausstellung „Belarus lebt“ diese Proteste auch in Berlin stärker ins Bewusstsein rufen. Die Ausstellungsmacher erzählen, dass es zwischen Belarus und Polen intensive kulturelle Beziehungen gab. Mit der Coronapandemie, vor allem aber seit August 2020 und durch die mittlerweile geschlossenen Grenzen sind diese Beziehungen fast zum Erliegen gekommen. Doch der Nachbarstaat ist in Polen sehr präsent, und das nicht nur wegen der belarussischen Minderheit und den politischen Flüchtlingen.

Kuratiert wird die Ausstellung von dem Minsker Fotografen Andrei Liankevitsch. Sein Hauptaugenmerk lag auf den vielfältigen kreativen Formen, die der Protest in Belarus angenommen hat. Und das, obwohl die Bevölkerung seit fast einem Jahr brutalsten Repressionen ausgesetzt ist.

Für einen Moment war das Land östlich von Polen auch bei uns präsent

Gleich am Eingang erschlagen einen die bloßen Zahlen: Bis Mitte Mai waren in Belarus 35.000 Menschen im Rahmen der Proteste inhaftiert worden. Darunter 548 Journalist*innen. Mehr als 500 Menschen sind offiziell als politische Gefangene anerkannt. Mit unglaublicher Brutalität geht das Regime Lukaschenko gegen seine Gegner vor. Und diese Gegner, sein eigenes Volk, bekommen in der Ausstellung ein Gesicht.

Porträtiert werden etwa „Rentner-Rebellen“, ältere Menschen, die erklären, warum sie politisch aktiv sind und regelmäßig zum „Marsch der Rentner“ auf die Straße gehen.

Ein wichtiger Aspekt der Proteste war, dass die Menschen begonnen haben, sich aktiv für ihr Land einzusetzen und miteinander über politische Fragen zu sprechen. So entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit eine lebendige Zivilgesellschaft. Auf Straßen und Plätzen, aber auch in ganz gewöhnlichen Hinterhöfen kam es in den ersten Monaten nach der „Wahl“ zu spontanen Versammlungen, zum Teil mit Volksfestcharakter. Einer dieser Orte, ein ganz normaler Minsker Hinterhof, „Platz der Veränderungen“ genannt: Auf diesem Hof traten im August 2020 zwei DJs auf, die dort unter anderem das Lied „Peremen“ (Veränderung) der sowjetischen Kult-Band Kino auflegten. Beide wurden verhaftet. Der Hof ist in der Ausstellung nachgestaltet.

Die bewegendsten Exponate dieser Ausstellung sind allerdings auch die unscheinbarsten. Drei Künst­le­r*in­nen haben während ihrer Haftzeit gezeichnet, was auf keinem Foto zu sehen ist: Innenansichten aus dem Gefängnis. Wir sehen hier zutiefst verstörende Bilder, mit Bleistift und Kugelschreiber gezeichnet: Porträts junger Frauen, die sich auf klapprigen Bettgestellen aneinanderlehnen, sich massieren und Tattoos zeichnen und versuchen, sich unter unmenschlichsten Umständen ihre Menschlichkeit zu bewahren.

Diese Zeichnungen erinnern an den Stalin’schen Gulag der 1930er Jahre. Sie sind aber aber aus dem Jahr 2021, aus einem Land, das nur 1.000 Kilometer von Berlin entfernt liegt.

„Belarus lebt“, bis 19. September im Pilecki-Institut, Pariser Platz 4a, 10117 Berlin, täglich von 10–18 Uhr. Der Eintritt ist frei. Wegen Corona ist eine schriftliche Anmeldung unter belarus@pileckiinstitut.de nötig.

Ein sehr informatives Zine ist vor Ort kostenlos erhältlich.

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