70 Jahre Erklärung der Menschenrechte: „Eindeutig Luft nach oben“
Menschenrechte müssen immer wieder neu erkämpft werden, sagt Wolfgang Kaleck vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte.
Taz: Herr Kaleck, vor 70 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Was bedeutet sie heute?
Wolfgang Kaleck: Sie ist eine wichtige, symbolische, wirkmächtige Erklärung. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – und aus der Verurteilung der Verbrechen des Nationalsozialismus heraus – setzten sich alle an den Tisch: nicht nur „der Westen“, sondern auch die Sowjetunion und einzelne wichtige Akteure aus dem Süden. Zwar hat es dann im Kalten Krieg viel zu lange gedauert, bis die beiden großen UN-Pakte über politische und bürgerliche Rechte einerseits und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits verabschiedet wurden, um so die Menschenrechte in verbindliche Konventionen und Pakte zu gießen. Trotzdem: Das muss man als absoluten Fortschritt ansehen.
Ist der ungebrochen?
Es werden noch viel zu viele Menschenrechtsverletzungen an unterschiedlichen Orten der Welt begangen. Und was vor allem Besorgnis erregt, ist die Distanzierung von den Menschenrechten als geltender Standard – nicht nur von den üblichen Verdächtigen wie Russland, China oder der Türkei. Auch europäische Staaten rücken von Menschenrechten ab, und da zeige ich auf Italien und Österreich genauso wie auf Ungarn und Polen.
Was meinen Sie mit „Distanzierung“?
Immer offener werden die Menschenrechte zwar als auch zu berücksichtigendes Kriterium erwogen. Aber etwa bei politischen Entscheidungen in Sachen Migration oder Terrorismus erscheint es inzwischen opportun, sich über bindende Standards hinwegzusetzen. Und immer häufiger wird damit gedroht, sich aus bestimmten Verträgen zurückzuziehen. Die USA machen das vor, aber auch andere Länder kokettieren damit.
Warum gibt es dagegen so wenig Widerstand? Woran mangelt es?
Die Menschenrechtsbewegung ist viel zu autoritätsgläubig gewesen. Es gibt den Internationalen Strafgerichtshof, es gibt die Anti-Folter-Konvention, es gibt die Anti-Genozid-Konvention und es wird wahrscheinlich eine Konvention über Verbrechen gegen die Menschlichkeit geben. Aber jetzt müssen wir die nächste Stufe erreichen: Diese Konventionen auch gegen mächtige Interessen durchzusetzen. Dafür reicht es nicht, an die Mächtigen zu appellieren. Da muss man ein bisschen mehr in die Waagschale werfen.
Was denn?
Man muss sozial und politisch mobilisieren, und man muss auch die Mittel und Wege des Rechts ausschöpfen. Und da ist eindeutig Luft nach oben.
Aber dazu braucht es politische Mehrheiten. Und im Moment hat man doch das Gefühl, dass das Eintreten für Menschenrechte immer unpopulärer wird.
Das kann schon sein, aber muss ich das hinnehmen? Das ist ein Zwischenstand, der zeigt: Was einmal erreicht wurde, ist nicht in Stein gemeißelt, sondern muss immer wieder verteidigt werden. Sollen wir denn jetzt aufgeben, weil nicht alles gleich funktioniert? Das kann es nicht sein. Die Frage ist: Lasse ich mich auf bestimmte Kämpfe ein, ja oder nein? Das sind persönliche und politische Entscheidungen.
Kämpfen auf verlorenem Posten ist halt nicht sehr reizvoll.
Ach je. Ich kann diese fatalistischen Tendenzen nicht nachvollziehen, und die sind zum Teil auch ahistorisch. Das laute Klagen zum Beispiel, dass die USA als Garant der Menschenrechte weggefallen seien: Der gerade verstorbene und im Vergleich zu Donald Trump als seriöser Politiker gefeierte Ex-Präsident George H.W. Bush war CIA-Direktor in den siebziger Jahren, als die CIA in zahlreiche schmutzige Kriege verwickelt und Komplizin von Folter und politischen Morden war. Auf der anderen Seite stimmt trotzdem: Die USA sind nicht Russland und China. Immerhin verteidigen sie die Standards zumindest teilweise diskursiv und machen es damit möglich, dass man sie daran messen kann. Das ist wichtig. Insofern: Es ist alles relativ.
Also stimmt die Wahrnehmung nicht, dass alles immer schlimmer wird?
Die wichtigste Veränderung ist doch, dass wir heute über die Welt Bescheid wissen, und das sehr zeitnah. Aber wir können diese Informationen zum Teil nicht verarbeiten, und dann macht es uns fertig. Das ist unsere Verantwortung: Wir müssen Informationen so verarbeiten, dass wir denk-, analyse- und handlungsfähig bleiben.
Was meinen Sie genau?
Wir müssen überlegen, wo wir unsere Kräfte sinnvoll einsetzen können. Es nutzt nichts, alle Berichte über Menschenrechtsverletzungen in aller Welt zu kennen und dann zum Ergebnis zu kommen, man könne ja eh nichts tun, weil es viel zu viel ist.
Themenwechsel: Es gab immer die Kritik, Menschenrechte seien ein westliches Konzept, geprägt von westlichen Werten, die man nicht einfach anderen Kulturen überstülpen könne. Was halten Sie von der Kritik?
Die Substanz der Menschenrechte ist doch: Du darfst nicht willkürlich einen Menschen töten, du darfst nicht willkürlich einen Menschen in den Knast stecken, du darfst keinen Menschen foltern, und jeder Mensch hat das Recht auf Ernährung, Behausung und medizinische Versorgung. Und das ist überhaupt kein westliches Konzept, sondern etwas, was in sehr großen Teilen der Welt sowohl in Gesetzen als auch im Bewusstsein der Menschen als Recht verankert ist.
58, ist Fachanwalt für Strafrecht mit dem Schwerpunkt internationales Recht. Seit 2007 ist er Vorsitzender des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) mit Sitz in Berlin.
Kaleck ist unter anderem durch Strafanzeigen gegen den früheren US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bekannt geworden. Er ist in Deutschland auch Anwalt des US-amerikanischen Whistleblowers Edward Snowden, der in Russland vor dem Zugriff der US-Justiz Zuflucht gesucht hat. (bernd pickert)
Also ist die Kritik vollkommen unberechtigt?
Es gibt eine berechtigte, postkoloniale Kritik, der ich mich anschließe. Das bezieht sich etwa auf das Völkerrecht, in dem sich bis heute bestimmte koloniale Rechts- und Denkfiguren wiederfinden, zum Beispiel die Idee der sogenannten „humanitären Intervention“. Aber im Allgemeinen kommt diese Kritik von den Relativierern: Man suggeriert, dass man für andere Kulturen Verständnis habe, um sich selbst von den Menschenrechten zu lösen. Und immer schwingt dieser Beigeschmack westlicher Überlegenheit mit: „Die schlagen sich da unten die Köpfe ein, die sind noch nicht so weit.“ Aber alle Gruppen im Globalen Süden, mit denen wir als ECCHR zusammenarbeiten, können sehr gut alleine artikulieren, was sie wollen und als ihr Recht empfinden.
Also braucht es die Hilfe von Organisationen aus dem Westen – oder aus dem Norden – gar nicht?
Ich wünschte mir jedenfalls ein Verständnis bei den hiesigen Akteuren, dass man sich nicht als Helfer und Retter sieht. Es gibt ja im Grunde drei Gruppen, die von Menschenrechten als „westlichem Konzept“ ausgehen: Erstens die Helfer und Retter, zweitens diejenigen, die ihre eigene Macht durch die Relativierung des Konzeptes der Menschenrechte verteidigen wollen, und drittens die Zyniker.
Das sind insgesamt ganz schön viele .
Aber es gibt ja auch genug Gegentendenzen. Man kann die Menschenrechte aus postkolonialer oder feministischer Sicht kritisieren, ohne das Konzept aufzugeben. Es muss verbessert werden, ohne jeden Zweifel, aber doch nicht abgeschafft!
Welche Akteure stehen denn heute am stärksten für eine Verbesserung, Vertiefung der Menschenrechte?
Sicherlich soziale Bewegungen, politische Gruppierungen, Teile von Zivilgesellschaften an vielen Orten der Welt. Man sieht das ja selbst in einem Land wie Brasilien, wo jetzt mit Jair Bolsonaro ein homophober Rassist als Präsident gewählt worden ist. Und trotzdem gibt es dort ganz starke Bewegungen etwa der Landlosen oder der Kleinbauern, die man als große Menschenrechtsbewegung einordnen kann. Sie handeln zwar nicht im Glauben an Gesetze oder Justiz – das kann man in Brasilien auch schwer entwickeln. Aber im Kern geht es um das Menschenrecht auf Land und Ernährung weiter Teile der Bevölkerung. Ähnlich sieht es in Mexiko und Kolumbien aus.
Und woran fehlt es?
Ich wünschte mir, dass sich in Europa nicht nur liberale oder Minoritätengruppen des Konzepts Menschenrechte bemächtigen, dass die Sozialdemokraten und Gewerkschaften Europas an die Tradition einer Zeit anknüpften, als es noch eine kommunistische und sozialistische Internationale gab, die sich mit dem gleichnamigen Lied dem Motto verschrieben hat: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“. Dann würde man auch diese absurde Diskussion vermeiden, wer eigentlich Schuld ist am Aufstieg des Rechtspopulismus.
Wo stehen wir in zehn Jahren?
Wenn sich mehr Leute dem Kampf für globale Gerechtigkeit verschreiben, dann sieht es besser aus, als wenn das weniger Leute tun. Die Chancen steigen, je mehr Leute sich auf der Seite der Marginalisierten und Entrechteten an diesen Auseinandersetzungen beteiligen. Wenn das immer weniger werden, dann haben es die Trumps dieser Welt leichter.
Sie wirken erstaunlich optimistisch, dabei haben Sie doch selbst auf die Tendenz der Relativierung von Menschenrechten hingewiesen, etwa bei der Abschottung vor Flüchtlingen manche Konventionen nicht mehr ganz so ernst zu nehmen oder sogar mit Ausstieg zu drohen.
Ich bin seit Jahrzehnten politisch aktiv. Ich habe mein Leben lang rechtsradikale Hetze und Schwachsinn gehört und Thesen, die ich politisch bekämpfe. Das ist heute nicht anders. Nochmal: Es ist eine Frage der Einstellung – verschreibe ich mich diesen politischen Kämpfen oder eben nicht? Für mich gibt es dazu gar keine Alternative. Damit hab ich nicht gesagt, dass wir immer mit den gleichen Mitteln kämpfen müssen. Man muss die Situation analysieren und kreativ bleiben.
Können Juristen das?
Wir haben als ECCHR das klare Postulat, dass die Durchsetzung von Menschenrechten ein politischer und ein juristischer Kampf ist. Die eine Dimension ist ohne die andere nicht zu denken. Natürlich muss man vor Gericht juristisch argumentieren. Aber sonst nicht, oder jedenfalls nicht nur. Im Gegenteil: Das trägt oft zur Entfremdung bei, wenn man den Kampf für die Menschenrechte als juristische Fachauseinandersetzung begreift, der sonst niemand folgen kann.
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