piwik no script img

Comiczeichner über Klischees„Ich hatte echten Bammel“

Der Zeichner Mikael Ross hat mit „Der Umfall“ das Dorf Neuererkerode porträtiert, wo Menschen mit geistiger Behinderung leben.

„Ein Ort für Wachstum“: Die Hauptfigur Noel aus „Der Umfall“ auf dem Weg nach Neuerkerode Foto: avant-Verlag
Friederike Gräff
Interview von Friederike Gräff

taz: Erinnern Sie sich noch an Ihr allererstes Ankommen in Neuerkerode, Herr Ross?

Mikael Ross: Es war so ein Schietwetter wie heute, ich bin mit einem geliehenen Auto nach Niedersachsen gefahren und mir war total bange. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich da hinfahre und ich hatte vorher auch nicht viel dazu recherchiert.

Absichtlich nicht?

Ich dachte, ich lasse es auf mich zukommen. Und dann war das Ankommen total positiv. Der Leiter der Freizeit hat mich herumgeführt und schon auf dieser Tour habe ich viele Leute kennengelernt, die mich angesprochen haben. Ich habe gehört, wie die Leute untereinander schnacken – das hat mir gut gefallen. Obwohl ich eigentlich gar nicht wusste, was ich in Neuerkerode sollte.

Neuerkerode

In der niedersächsischen Gemeinde Neuerkerode leben über 800 Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und über 1.000 StiftungsmitarbeiterInnen. Geleitet wird sie von der Evangelischen Stiftung Neuerkerode.

Gegründet wurde sie 1868 von dem evangelischen Pastor Gustav Stutzer mit Mitteln der Bankierstochter Luise Löbbecke.

Der Comic "Der Umfall" beschreibt das Leben in Neuerkerode anhand der fiktiven Hauptfigur Noel, der nach einem Unfall seiner Mutter in das Dorf kommt.

War Ihre Aufgabe nicht, ein Porträt dieses Dorfes zu zeichnen, in dem 800 Menschen mit geistiger Beeinträchtigung leben und über 1.000 StiftungsmitarbeiterInnen arbeiten?

Ich dachte, ich würde da nur einen Workshop geben. Am zweiten Tag habe ich den Leiter, Rüdiger Becker, getroffen, der mir eröffnete, dass er auf der Suche sei nach einem Comic­zeichner, und ob ich nicht Bock hätte auf dieses Projekt.

Konnten Sie direkt ja sagen?

Ich habe mir noch einmal Bedenkzeit genommen, weil ich nicht ganz sicher war, ob ich der Aufgabe gewachsen wäre. Es ist das erste Buch, das ich auch geschrieben und nicht nur gezeichnet habe, und dann gleich so eine Riesenaufgabe, ein Dorf mit so vielen Menschen darzustellen – da hatte ich echten Bammel.

War es die Furcht, so vielen Leuten oder insbesondere Menschen mit geistiger Behinderung nicht gerecht zu werden?

Plus die Angst, dass die Stiftung bei solch einer Auftragsarbeit großen Einfluss nehmen würde. Zum Glück hat sich das nicht bestätigt. Die Stiftung hat sich tatsächlich ganz rausgehalten.

Sie sind zwei Jahre lang immer wieder nach Neuerkerode gefahren – hatten Sie einen Plan, wie Sie vorgehen?

Ich habe nach meiner Art gearbeitet: Ich habe gewartet, bis Sachen zu mir gekommen sind, bis Leute mir vertrauen, ohne das so forcieren zu müssen. Ich hatte meine kleine Wohnung dort, wo ich auch einen Rückzugsort hatte. Ich habe gefrühstückt, bin in die Kunstwerkstatt rüber gegangen, habe den Tratsch dort mitbekommen, in der Kantine gegessen, einen Spaziergang ins Nachbardorf gemacht, ein Bürger hat mich irgendwohin mitgenommen.

Bild: privat
Im Interview: 

Mikael Ross, 34, ist Comic­zeichner in Berlin. Seine erste Erzählung „Herrengedeck“ erschien 2008. Für den „Umfall“ erhielt er das Comic-Stipendium des Berliner Senats.

Ein Bürger?

So werden die Menschen genannt, die dort leben; es gibt auch eine Bürgervertretung. Da Neuerkerode so einen dörflichen Charakter hat, verschwindet das Gefühl einer Einrichtung.

Wie abgeschieden, abgeschottet ist Neuerkerode?

Es ist sehr kompliziert. Es wohnen Betreuer in Braunschweig, die zur Arbeit ins Dorf kommen, es wohnen Menschen mit geistiger Behinderung allein in Braunschweig, die hier einen Job in der Kantine haben, es gibt Leute, die in Neuerkerode als Betreuer arbeiten und auch hier leben. Der Direktor zum Beispiel wohnt auch im Dorf. Man kann viel austarieren, was für wen passt: Leute, die ganz alleine wohnen, zu denen nur eine Putzfrau kommt, Leute mit viel Betreuung, Leute in Wohngruppen, die Betreuung der Schwerbehinderten, die noch ein ganz anderes Feld ist.

Sie taucht im Comic auch nicht auf.

In dem Bereich ist es noch einmal schwieriger, Kontakt aufzunehmen. Man braucht viel länger, wenn etwa nicht gesprochen wird. Man denkt am Anfang, ich weiß, worum es sich handelt. Ich hatte auch meine Vorurteile dazu und je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr merkt man, wie komplex es ist.

Was waren Ihre Vorurteile?

Sonderbar: vor den Stadttoren so eine große Einrichtung, seit 150 Jahren – werden da Leute weggesperrt? Ich bin neben einem Altenheim aufgewachsen und habe als Jugendlicher sehr klar mitbekommen, was es heißt, wenn du in einer Einrichtung gefangen bist. Wenn die Alten jeden Tag an deine Kinderzimmertür klopfen: Hallo, ich will nach Hause. Könnt ihr mir ein Taxi rufen? Und dann werden sie zurückgebracht. Ich hatte eher mit so etwas gerechnet. Aber je länger ich in Neuerkerode war, desto mehr wurde mir klar, dass dieses Klischee nicht zutrifft.

Als ich den „Umfall“ las, hat es mich an ein paar Stellen kalt erwischt: etwa bei der Sehnsucht der Jugendlichen, dass ihre Familie sie endlich besucht.

Die Familienbindung ist ein großes Thema bei den Neuerkerödern, deswegen habe ich es auch so zentral hineingepackt. Fast egal, mit wem du sprichst, zumindest bei den Jüngeren, die mit 20, 23 dorthin kommen: Die kommen direkt aus ihren Familien und manchmal sind die Beziehungen sehr gut, es gibt dann auch ein „Warum muss ich hier sein, ich will wieder bei meinen Eltern wohnen“. Oder die Beziehungen sind so gekappt, dass eine große Verletzung da ist. Es passieren auch tragisch Sachen.

Woran denken Sie da?

Wir haben mit einer Gruppe einen Ausflug nach Potsdam gemacht, bei dem einer nicht mit hoch zum Schloss ging, weil ihm die Treppen zu viel waren. Ich saß unten mit ihm und er sagt mir: Weißt Du, was mit meinem Auge passiert ist? Dann gucke ich und merke, dass er ein Glasauge hat. Da erzählt er: „Autounfall. Meine Mutter ist dabei gestorben und ich habe das Auge verloren.“ Danach kam er nach Neuerkerode. Diese Art von Gespräch waren die Grundlage für meine Hauptfigur. Dieser Zwiespalt: Du verlierst etwas, was dir sehr teuer ist, und wirst in etwas Neues hineingeworfen, was erst einmal unangenehm ist, aber wodurch auch die Möglichkeit besteht zu weiterem Wachstum.

Gab es Menschen, die Ihnen besonders nahegekommen sind?

Irma. Das ist die älteste Bewohnerin von Neuerkerode, eine gestandene Frau mit jetzt 91 Jahren, die noch total auf Zack ist. Sie ist mit neun Jahren mit ihren beiden Brüdern dorthin gekommen. Von ihr zu hören, wie es war, als Neuerkeröder von den Nazis und den Mitarbeitern abtransportiert wurden, das hat mich sehr berührt. Über eine Zeitzeugin mitzuerleben, wie schnell so eine Einrichtung von einer humanistischen Idee 70 Jahre später in das Gegenteil kippt und die gleichen Menschen, die ihr ja zum Schutz befohlen sind, umbringt.

Wie schwierig war es für Sie, das Thema anzusprechen?

Das war nicht ganz einfach, weil es für sie noch einmal ein Zurückkehren in diese Zeit war, die bei ihr mit Schmerz besetzt ist. Sie da zu fragen, war ein Seiltanz, weil ich für sie eher ein Fremder war, dem sie erst mal nicht so vertraut hat. Dann hat die Mitarbeiterin aus der Wohngruppe aber noch einmal für mich vorgesprochen, wir haben es zu dritt gemacht und sie hat mir sogar die alten Fotos gezeigt. Danach hatte ich das Gefühl, dass ich vielleicht eine Grenze überschritten und in etwas gewühlt habe, in dem ich nicht wühlen sollte – und war dann sehr erstaunt, als sie mir über jemanden zukommen ließ, dass sie sauer ist, dass ich danach nicht noch einmal aufgetaucht bin. Jetzt bin ich zumindest für den 92. Geburtstag im Januar eingeladen.

Damals sind drei Geschwister gemeinsam nach Neuerkerode gekommen?

Ja und es ist gar nicht so klar, ob sie alle eine Behinderung hatten. Ich glaube, dass es einfach Kinder von Landarbeitern waren, die es nicht stemmen konnten, vielleicht hatten sie eine Lernschwäche. Heute würde man ganz anders damit umgehen. Wir sind inzwischen viel weiter als damals.

Sie haben einmal vom Zauber von Neuerkerode gesprochen, den man am besten in einem Comic einfangen könnte. Warum?

Comic bietet die Möglichkeit, einen unklaren Raum für den Leser zu schaffen. Hätte ich das filmisch oder mit Tonaufnahmen gemacht, hätte jeder Rezipient, der das sieht oder hört, sofort gecheckt: Da geht es um Menschen mit geistiger Behinderung. Und jetzt merke ich am Feedback, dass das Buch diese Unklarheit hat: Es wird ja nicht erklärt. Die Leute schlagen das Cover auf und müssen erst entdecken, worum es sich eigentlich dreht. Dann schlüpft man vielleicht wirklich in diese fremde Haut.

Hatten Sie Angst, bei der Darstellung der Menschen mit geistiger Behinderung in Klischees zu verfallen?

Man kann nur fehlgehen. Entweder man erzählt zu rosig oder man ist ungerecht. Diesen superschmalen Grad dazwischen auszutarieren, war am Anfang die Hauptarbeit. Den Ton zu finden; auch den Witz der Leute darzustellen. In Neuerkerode ist es manchmal supertraurig und manchmal ist es superlustig.

Gab es auch Situationen, wo Sie dachten: Muss das so sein, ginge es nicht anders?

Du triffst Eltern von Bürgern, die total schimpfen, dass der Pflegestand nicht gut ist: Warum gibt es so wenig Betreuung, warum müssen wir nach allem fragen? Die eine große Wut haben. Aber das ist nicht die Einrichtung, das ist in Deutschland generell so und es wird auf dem Rücken der zu Betreuenden ausgefochten und auf dem derjenigen, die dort arbeiten. Es gibt immer zu wenig Geld.

Gibt es Dinge, die Ihnen fremd geblieben sind?

Eigentlich nicht. Immer, wenn mir etwas fremd war, habe ich beim nächsten Besuch oder einen Monat später die Antwort darauf bekommen. Wenn mir Handlungen in Neuerkerode unplausibel und verrückt erschienen, musste ich das verrückt meist wieder rausnehmen, weil dahinter immer eine Logik steckt, wenn sie auch anders ist als die normale Logik.

Hätten Sie ein Beispiel?

Ich treffe zum ersten Mal eine Person, die mir sagt: „Heute kein Spielspaß, heute kein Essensspaß, Tag ist ruiniert, tschüss.“ Dann lernt man deren Leben kennen und merkt: Kein Spielspaß bedeutet, dass alle Mensch-ärgere-dich-nicht-Partien heute schief gelaufen sind, er war nicht pünktlich beim Abendessen und die Person, mit der er gewohnt ist, zu Abend zu essen, war nicht anwesend. Und man merkt: Die Person ist nicht verrückt, sondern einfach eigen. Auch die Sprache: Zu Beginn versteht man die Leute manchmal schlecht. Je länger man da ist, desto mehr merkt man: Man kann sich wunderbar unterhalten, die Person ist total höflich, interessiert, will wissen, was du hier machst und was es Neues gibt. Je mehr ich da war, desto mehr Vertrauen habe ich gewonnen.

Wohinein?

In die Menschen dort. Du merkst, es gibt wenig irrationales Verhalten. Ich war vorher relativ uninformiert, dann hat man viel mehr Angst und denkt: Es kann alles passieren.

Wovor genau hat man da Angst?

Man bekommt ja schon als Kind beigebracht: Verhalte dich nicht so und so, sonst kommst du in der Gesellschaft nicht gut an. Und dann hast du plötzlich Menschen, die sich genau so verhalten, die aber 45 sind. Ich glaube, dass man in dem Moment, in dem man das sieht, schnell verfällt in das Kind, dem gesagt wird: Wenn du dich so verhältst, wirst du ausgestoßen. Und sobald wir sehen, dass sich jemand so verhält, spüren wir nicht nur ein Befremden, sondern auch Angst, dass das nicht geht, dass etwas passieren wird.

Und: passiert etwas?

Es braucht eine Zeit, bis man merkt: Es passiert gar nichts. Als Kind weiß man ganz genau, wenn man den Teller vom Tisch schleudert, gibt es eine Reaktion, dann wirst du erzogen. Aber in Neuerkerode gibt es ganz viele Menschen, die es jeden Tag so machen. Weil sie es nicht anders können, aber sie wollen trotzdem am Tisch sitzen und teilhaben und nicht mit einem Schlauch ernährt werden. Da sieht es halt mal kurz unordentlich aus, aber dann merkt man, es ist alles okay, niemand regt sich auf. Und in dem Moment entspannt man sich.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!